Allein die spektakuläre Umgebung des Elbsandsteingebirges würde einen Ausflug nach Bad Schandau lohnen. Doch abgesehen von ihren sonstigen Reizen ist die kleine Kurgemeinde 40 Kilometer südöstlich von Dresden seit einiger Zeit um eine Attraktion reicher. Worum es geht, erfährt man beim Besuch der evangelisch-lutherischen Sankt-Johannis-Gemeinde, wo seit Anfang 2020 ein Ensemble mit ganz besonderen Instrumenten zu hören ist – wenngleich der Plural „Instrumente“ hier nicht ganz angebracht scheint. „Im Grunde genommen ist die Gruppe als solche das Instrument“, sagt Daniela Vogel, Kirchenmusikerin an St. Johannis sowie Gründerin und Leiterin des Handglockenchors Bad Schandau. „Die Glocken selbst sind nur die Teile, aus denen es sich zusammensetzt.“
Gemeinsam mit ihren 14 Mitstreiter*innen gehört Daniela Vogel zu den Handglockenpionieren in Deutschland. Anders als in Großbritannien oder den USA hat das chorische Musizieren mit handgefertigten Bronzeglocken hierzulande keine lange Tradition. Vor allem im Osten der Republik haben Handglockenchöre noch immer einen Exotenstatus. „In den USA sind sie so etwas wie in unseren evangelischen Kirchen die Posaunenchöre: Man findet sie in fast jeder Gemeinde“, berichtet Vogel. „Nach dem Zweiten Weltkrieg haben US-Soldaten das Phänomen zumindest im Westen Deutschlands eingeführt.“ Hier gebe es heute schätzungsweise 40 solcher Gruppierungen, während Thüringen im Osten schon mit gerade einmal dreien der absolute Spitzenreiter sei. In ihrem eigenen Bundesland Sachsen, sagt Daniela Vogel, sei der Handglockenchor Bad Schandau der erste überhaupt.
„Das Schöne ist, dass man auch ohne großes musikalisches Grundwissen einsteigen kann. Man muss noch nicht einmal Noten lesen können.“
Kostspielige Angelegenheit
Als Studentin hatte sie erstmals vom Handglockenspiel gehört. Durch ihre Recherchen immer mehr in den Bann gezogen, lud Daniela Vogel 2013, kurz nach Antritt ihrer heutigen Stelle, erstmals den Handglockenchor Gotha zum Internationalen Bad Schandauer Orgel- und Musiksommer. „Mir schwebte so etwas auch bei uns vor“, erinnert sie sich, „doch ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie man das macht oder organisiert.“ Der Auftritt des Gothaer Ensembles, das erste, das mithilfe einer amerikanischen Partnergemeinde in der damaligen DDR ins Leben gerufen wurde, lieferte den passenden „Anschauungsunterricht“, und schon bald hatte Daniela Vogel einen Kreis Interessierter um sich geschart, die das Spiel mit den Handglocken lernen wollten. „Leider ist es gar nicht so einfach, einen Handglockenchor zu gründen – denn es handelt sich um eine ziemlich kostenintensive Angelegenheit.“
Zum Jahresbeginn 2020 kam den Schandauern die Initiative „MusikVorOrt“ zur Hilfe, ein Förderprogramm des Bundesmusikverbands Chor & Orchester (BMCO). Es unterstützt innovative Musikprojekte im ländlichen Raum, d. h. in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohner*innen, darunter auch Ensemble-Gründungen. „Die Förderzusage kam praktisch über Nacht“, sagt Daniela Vogel, die bald darauf voller Freude einen Satz Handglocken über vier Oktaven in Empfang nehmen konnte, gegossen von einer Firma in Pennsylvania und von der handbell academy Weimar, einem spezialisierten Vertrieb, zur Verfügung gestellt. Aus vier Oktaven wurden später sogar fünf. „Kaufen konnten wir die Glocken allerdings nicht, da die Förderrichtlinien ausschließlich eine Instrumentenleihe für einen bestimmten Zeitraum vorsahen“, sagt Daniela Vogel. Zudem hätten allein die vier Oktaven mit rund 20.000 Euro zu Buche geschlagen. „Dass wir für einen Einjahreszeitraum monatlich nur vier bis fünf Prozent des Instrumentenwertes an Leihgebühren zahlen mussten, haben wir als Riesenchance gesehen.“
Notenkenntnisse nicht nötig
Durch Unterweisung ihres Kollegen Matthias Eichhorn aus Gotha und der Methode „Learning by Doing“ eignete sich Daniela Vogel zunächst selbst die nötigen Techniken an, um sie im Anschluss an ihre Mitmusizierenden weiterzugeben. „Das Schöne ist, dass man auch ohne großes musikalisches Grundwissen einsteigen kann“, sagt die Kirchenmusikerin. „Man muss noch nicht einmal Noten lesen können.“ Viel entscheidender seien eine gute Koordinierung und Konzentrationsfähigkeit. „Wir spielen zwar ganz normale Melodien“, sagt Daniela Vogel, „aber jeder übernimmt mit seinen Glocken nur eine bestimmte Anzahl von Tönen. Wenn die dran sind, muss man bereit sein.“ Die Einsätze gibt die Dirigentin, die Glocken, die an einem Lederriemen gehalten und mit der offenen Seite nach oben geschwenkt werden, liegen in der entsprechenden Tonfolge auf speziell gepolsterten Tischen vor den Mitwirkenden bereit.
Mit dem bloßen Anschlagen des Klöppels, dem so genannten „ring“, ist es dabei in der Regel nicht getan, den Spieler*innen stehen eine Reihe von Techniken und Effekten wie Vibrato, Tremolo oder Echo zur Verfügung. Neben Originalliteratur, die wie die Glocken selbst meist aus dem angloamerikanischen Raum stammt, gibt es eine Fülle an Bearbeitungen aus allen nur erdenklichen musikalischen Bereichen, vom Weihnachtslied bis zum Jazz-Standard, meist mehrstimmig und in ähnlicher Weise notiert wie eine Klavierpartitur. Damit sich die Spielenden besser darin zurechtfinden, trägt die Chorleiterin am Anfang die Positionen und Namen der auf den jeweiligen Plätzen zu verwendenden Glocken ein und markiert die Stellen, an denen sie gewechselt werden müssen. Vorbereitung ist alles – auch wenn sie nicht vor unvorhergesehenen Ereignissen schützt.
Kirchenmusik im Lockdown
„Endlich waren wir so weit, und dann begann die Pandemie“, sagt Daniela Vogel. Proben in großer Besetzung waren zunächst unmöglich, allerdings zunächst auch nicht geplant, da sich jedes Chormitglied zunächst einmal einzeln mit dem Instrument und seinen Spieltechniken vertraut machen musste. Ab Sommer 2020 wurden die Spieler*innen im Alter zwischen elf und 65 in dann Kleingruppen aufgeteilt, während Daniela Vogel die Töne der jeweils anderen Chormitglieder auf dem Klavier ergänzte. „So konnten wir das Ganze zumindest simulieren, und alle hatten schon einmal geübt, an welchen Stelle was getan werden musste.“ Im September war es so weit, dass erstmals im Tutti geprobt werden konnte. Dank der vorangegangenen Präparierung ließen sich die Gesamtmelodien hinterher einfach zusammensetzen, und nachdem es wieder erlaubt war, konnte der Handglockenchor sein frisch erworbenes Können endlich vor Publikum unter Beweis stellen.
„Während der langwierigen Lockdown-Maßnahmen ab Herbst 2020 waren wir insofern privilegiert, als wir – natürlich unter Einhaltung aller notwendigen Hygienemaßahmen – Teil der Kirchenmusik waren und im Rahmen des Gottesdienstes gemeinsam auftreten durften“, sagt Daniela Vogel. Vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit bereicherte der Handglockenchor das Leben der Gemeinde mit musikalischen Beiträgen, während „normale“ Kirchenchöre, denen man wegen des Aerosol-Ausstoßes beim Singen im wahrsten Sinne des Wortes den Mund verboten hatte, schweigen mussten. Die Wirkung auf die Zuhörerschaft war überwältigend – ebenso wie die Freude der Musizierenden, die erstmals die Magie des reinen Ensembleklangs verspürten.
Das positive Echo kann Daniela Vogel gut gebrauchen. Denn um die Handglockenmusik in St. Johannis weiter aufrecht zu erhalten, benötigt sie auch in Zukunft Unterstützung. „Da die Glocken nur geliehen sind, müssen sie auch wieder zurückgegeben werden“, sagt sie. Den finanziellen Anschub, den es braucht, um die Glocken zu kaufen und damit dauerhaft dem Ensemble zur Verfügung zu stellen, kann ihre Gemeinde nur in begrenztem Umfang leisten. Rührig und vernetzt wie sie ist, hat die Kirchenmusikerin jedoch bereits von sich aus die Initiative ergriffen und Ideen entwickelt, wie das notwendige Geld beschafft werden kann – damit Bad Schandau auch weiterhin von Glockenklängen erfüllt ist.