Nach der vieldiskutierten Edition von Mozarts „Zauberflöte“ macht die Initiative Critical Classics jetzt mit ihrer nächsten Ausgabe Vorschläge für den Umgang mit dem Antijudaismus in einem der meistgespielten und gleichzeitig umstrittensten Oratorien des Repertoires: Bachs Johannes-Passion

Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach ist ein Meisterwerk der europäischen Kirchenmusik und eines der meistgespielten Oratorien des gesamten Repertoires. In Bezug auf die darin enthaltene Darstellung von Juden wird die Passion aktuell jedoch weitestgehend einvernehmlich als Problemfall eingestuft.

Texte ändern, um Publikum und Aufführenden Sicherheit zu geben

Ohne eine Note von Bachs Musik zu ändern, schlagen die Autor:innen der Initiative Critical Classics vor, das Libretto behutsam zu modifizieren. Im Original herrscht der Eindruck vor, alle Juden würden danach streben, dass Jesus hingerichtet wird. Um dies zu vermeiden wird die Erzählung so umgestaltet, dass die realen, historischen Geschehnisse, die zu Jesu Kreuzigung führten, deutlicher hervortreten: Die beteiligten Juden werden differenzierter gezeichnet, indem sie als von ihren eigenen Priestern politisch beeinflusst und gelenkt erlebt werden. Gleichzeitig wird erkennbar, dass die Priester allen Grund hatten, nicht in Konflikt mit der römischen Besatzungsmacht zu geraten. Somit wird der Text der Passion nicht nur der historischen Faktenlage angenähert, sondern auch der Erzählung in den anderen Evangelien. Die Auseinandersetzung büßt dabei weder musikalisch noch textlich an Schärfe ein – aber die Handlungen werden nachvollziehbarer und die Erzählung verliert viel von ihrer diskriminierenden, verkürzten Darstellung ‚der Juden‘. So gewinnen Aufführende und Publikum Sicherheit, durch die Beschäftigung mit einem der größten Kunstwerke der Musikgeschichte, nicht den Antisemitismus zu befördern. Die Edition richtet sich sowohl an Liebhaber:innen als auch an professionelle Musiker:innen. Ein starker Fokus liegt bei den unzähligen Musikfreund:innen, die Bachs Passionsmusik jedes Jahr zur Aufführung bringen und dabei jahrhundertealte Texte singen (müssen), die ihren eigenen Überzeugungen zum Teil deutlich widersprechen. Noch Anfang dieses Jahres stellte der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Niedersachsen, Professor Gerhard Wegner, fest, dass man das Werk „nicht mit einem guten Gewissen aufführen kann. […] Diese antijüdischen Passagen gehören eigentlich nicht gesungen.“ Die aktuelle Debatte wird erwartbar kontrovers geführt und schließt sogar bei gemäßigten Meinungsführer:innen das Nachdenken über einen generellen Verzicht von Aufführungen der Johannes-Passion ein – so wie z.B. aktuell in Israel keine Darbietungen erfolgen.

So geht die Initiative vor

Für die Erarbeitung der Edition hat Critical Classics - wie bei der vorausgegangenen Ausgabe der „Zauberflöte“ - erneut ein breites Spektrum von Expert:innen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammengeführt. Elementar wichtig war der Einbezug von Vertreter:innen der betroffenen Religionsgemeinschaften. Neben Publizist:innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten wie der Spezialistin für Diversität, Leyla Ercan, dem Schriftsteller Max Czollek oder dem evangelischen Pfarrer i. R. Matthias Loerbroks, bildeten vor allem Expert:innen aus den unterschiedlichsten musikalischen Bereichen, wie z.B. der Dirigent Will Humburg, das fachübergreifend hoch besetzte Personal. Die Zusammenarbeit von musikalischen und außermusikalischen Spezialist:innen bei der Erstellung von diskriminierungsarmen Editionen bekannter Klassiker des Musikrepertoires ist zum Markenzeichen der Initiative Critical Classics geworden. Diese außergewöhnlichen Konstellationen erlauben es, ein breites Panorama an Meinungen, kulturellen Hintergründen und Expertisen in die editorische Arbeit einfließen zu lassen.

Die Eingriffe sind begrenzt

Der Umfang der von Critical Classics vorgeschlagenen Änderungen ist überschaubar, betrifft jedoch zumeist Texte, die direkt aus dem Johannes-Evangelium stammen, weil diese die dargestellte Handlung enthalten. Änderungsvorschläge gibt es für die Partien des Evangelisten (60 Worte), des Chors (sechs Worte), des Pilatus (sieben Worte) sowie die Partie des Jesus (ein Wort). Die Texte der oftmals bekannten Arien sind nicht betroffen.

Nutzung der neuen Edition

Im Rahmen der Edition stellt Critical Classics nicht nur ein Libretto mit kommentierten Änderungsvorschlägen sowie eine entsprechende Partitur zur Verfügung, sondern erläutert in einem ausführlichen Einführungstext die Hintergründe und Strategien der Arbeit. Diese und weitere Materialien stehen auf der Homepage der Initiative zum Download bereit. Die Nutzung des Materials ist kostenlos und rechtefrei.

Team Critical Classics (Auswahl)

Leyla Ercan (Beraterin für Diversität), Ilya Kukharenko (Dramaturg), Beeke Hölzer (Dramaturgin und Projektmanagerin), Han Körner (Dramaturg:in und Projektmanager:in), Änne-Marthe Kühn (Dramaturgin und Projektmanagerin), Berthold Schneider (Initiator, Autor und Projektmanager), Critical Classics wurde neben vielen anderen beraten von Max Czollek, Will Humburg und Matthias Loerbroks.

Die Herausgabe der diskriminierungsarmen Edition von Bachs Johannes-Passion wurde möglich gemacht durch Förderungen der Amadeu Antonio Stiftung sowie des Amtes für Integration und Vielfalt der Stadt Köln.