Obere Absätze
Elisabeth Champoillion und Reinhard Goebel
Elisabeth Champoillion und Reinhard Goebel  
Photo:  Clovis Michon (links) / Gert Mothes (rechts)

Seit fünf Jahrzehnten prägt Reinhard Goebel die Szene der Alten Musik in Deutschland wie kaum ein anderer. Die Blockflötistin Elisabeth Champollion setzt als Vertreterin der jüngeren Generation verstärkt auf genre- und epochenübergreifende Konzepte. Im Interview mit dem WDR-Redakteur Richard Lorber sprechen die beiden über ihre musikalischen Werdegänge, Entdeckungen in Archiven und über die sich wandelnden Standards in der künstlerischen Arbeit.

LORBER: Herr Goebel, mit welcher Quelle haben Sie sich zuletzt befasst?

GOEBEL: Mit Johann Mattheson „Der vollkommene Capellmeister“, ungefähr vor einer Stunde zu Hause. Gestern Abend habe ich in Salzburg unterrichtet und meine Studierenden mit Leopold Mozarts Violinschule und seinen Ausführungen zu den Taktarten und Zeitmaßen konfrontiert, und davor habe ich gestern Morgen im Hotel in Giuseppe Cambinis Violinschule gelesen. 

LORBER: Herr Goebel, Sie sagten einmal, Sie hätten Mattheson lange Zeit überhaupt nicht verstanden. Was ist da nicht zu verstehen?

GOEBEL: Als ich Anfang der 1960er-Jahre anfing, mich mit Alter Musik zu beschäftigen und im Radio die Aufnahmen der Cappella Coloniensis und des Collegium aureum hörte, meinte ich, man müsse sich auch mit den Musiktraktaten befassen und kaufte mir den „Vollkommenen Capellmeister“. Aber das war total überflüssig, weil es mich als 18-jährigen nur überforderte. Mattheson hat das Werk für Komponisten verfasst. Ich sage heute meinen Studentinnen und Studenten, sie sollen nur das lesen, was sie auf die Musik, mit der sie sich beschäftigen, direkt anwenden können. Aber auch da muss ich leider feststellen, dass viele nicht firm im Quellenstudium sind.

LORBER: An Sie, Frau Champollion, dieselbe Frage: Mit welcher Quelle haben Sie sich zuletzt beschäftigt? 

CHAMPOLLION: Ich hatte auch ein „Quellen-Erlebnis“ in der letzten Zeit, und zwar mit einem Traktat, dem ich vor fast 20 Jahren zu Beginn meines Studiums zum ersten Mal begegnet war, nämlich Silvestro Ganassis’ „La Fontegara“. Das ist die erste schriftlich niedergelegte Instrumentalschule für Blockflöte aus dem Jahr 1535 in Venedig, eigentlich eine Diminutionsschule, in der es darum geht, wie ich die Musik der Renaissance-Polyphonie verzieren und ornamentieren kann. Am Anfang meines Studiums kannte ich schon Giovanni Bassanos Schrift „Ricercate, passaggi e cadentie“ und die Diminutionsschule von Girolamo Dalla Casa. Da wird immer unterteilt in 4, 8, 16 oder 32 Noten. Aber bei Ganassi ist alles anders, da sind es ungerade Teilungen mit 5, 7 oder 11 Noten. Ich habe damals versucht, das zu spielen, habe es aber nicht verstanden und weggelegt, bis neulich eine Einspielung des französischen Zinkenisten William Dongois erschienen ist. Er hat diese Quelle zum Klingen gebracht und kann spielen wie ein Jazzmusiker. Ich hatte auch die Gelegenheit, mit William Dongois zu musizieren, und zwar Stücke aus Ganassis Zeit, die wir mit konkreten „Ganassi“-Diminutionen verziert haben. Er hat einen sehr langsamen Metronom-Grundschlag von 30 genommen und innerhalb dieses Schlags die vielen kleinen Noten sehr, sehr organisch und gestisch organisiert. Also habe ich im Abstand von vielen Jahren mit derselben Quelle ganz unterschiedliche Erfahrungen machen können.

LORBER: Was hat das mit Alter Musik zu tun? Dieses Organisieren mit der Metronomzahl 30, wo zwischen den Schlägen ganz viele Noten untergebracht werden müssen. Das klingt für mich fast wie improvisierte zeitgenössische Musik oder auch Jazzmusik. 

CHAMPOLLION: In der Alten Musik ist die Notation eine Sache und die Ausführung eine ganz andere. Als Blockflötistin bin ich sehr viel mit der Musik des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts beschäftigt. Aus dieser Zeit gibt es viele Quellen für Blasinstrumente, in denen beschrieben wird, wie bestimmte Artikulationsformen mit der Zunge auszuführen sind usw., was sich sicher auch auf die Geige übertragen lässt im Hinblick auf die Bogenführung. Solche Fragen werden in den Traktaten dieser Zeit überall behandelt.

LORBER: Muss eine solche Wissensvermittlung notwendigerweise aus den alten Schriften wie denen von Ganassi oder Bassano erfolgen? Oder kann das auch durch einen renommierten heutigen Pädagogen vermittelt werden? Anders gefragt: Ist für die Alte Musik nach wie vor das Studium der Quellen notwendig? 

CHAMPOLLION: Beides! Ich habe mich zunächst mehr oder weniger selbstständig mit Ganassi beschäftigt und erst viel später mit einem Meister daran gearbeitet. William Dongois hat die Materie völlig verinnerlicht, und ich habe bei ihm, wenn ich ehrlich bin, sehr viel durch unkommentiertes Vorspielen und Nachspielen gelernt. Das, was ich vorher schon versucht hatte zu üben, nämlich 13 Noten irgendwie mit der Artikulation zwischen zwei Grundschlägen zu organisieren, das habe ich erst durch das Kopieren eines Meisters, durch das klangliche Nachahmen und das körperliche Nachahmen auf mein Spiel übertragen können. 

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Reinhard Goebel in seinem Arbeitszimmer
Reinhard Goebel  
Photo:  Markus Bollen

LORBER:Herr Goebel, erst das Studieren von Quellen, dann das intuitive Lernen, wie es Frau Champollion beschrieben hat, wie sehen Sie das?

GOEBEL: Bei mir war das eigentlich andersherum. Ich hatte erst einmal eine Menge an Lehrern und eine Menge an Vorbildern, die ich besucht habe und bei denen ich versucht habe herauszufinden, ob deren Art zu mir passt. Dann bin ich in die Musikwissenschaft „abgedriftet“. Bei Musica Antiqua Köln haben wir am Anfang einfach drauflosgespielt und auch unsere Vorbilder und Lehrer imitiert, seien es Franzjosef Maier oder Saschko Gawriloff, bei denen ich studierte oder auch die holländische Schule, aus der ich ja auch zum Teil stamme durch mein Studium bei Marie Leonhardt. Erst später, als Musica Antiqua Köln sich fest formiert hatte, kam dann das intensive Quellenstudium dazu, und ich musste entscheiden, was ich daraus mache. Ich unterrichte auch heute so, dass ich den Leuten sage: „Hören Sie sich bloß nicht meine alten Platten an. Machen Sie es nicht nach, sondern machen sie sich ihre eigenen Gedanken dazu und entwickeln sie ihren Personalstil.“ Das muss auch früher so gewesen sein. Bei Johann George Tromlitz, einem Flötenlehrer aus dem 18. Jahrhundert, kann man z. B. etwas über die individuellen Unterschiede in der Art zu musizieren, die es damals gegeben hat, erfahren. Außerdem reisten die Musiker durch ganz Europa und nahmen die unterschiedlichsten Einflüsse auf, z. B. der Geiger Johann Gottlieb Graun, der von dem Dresdner Johann Georg Pisendel ausgebildet wurde und später bei Tartini in Padua studierte. Als er wieder nach Dresden zurückkam, hat er sicher ganz anders gespielt. Ich nehme diese Dinge wahr, habe mit 25 angefangen, diese Schriften zu lesen, mit 45 noch einmal und jetzt wieder. Es ist jedes Mal eine Bereicherung, weil mich heute andere Dinge interessieren als damals.

LORBER: Spricht aus dem, was Reinhard Goebel und Sie, Frau Champollion sagen, eine Art „Elan vital“, eine bestimmte Begeisterungsfähigkeit, die notwendig ist, um Alte Musik zu machen? 

CHAMPOLLION: Es gibt keinen anderen Grund, im 21. Jahrhundert Alte Musik zu studieren. Es gibt niemanden, der heutzutage ein Alte Musik-Studium aufnimmt, weil er denkt, damit werde ich reich oder damit kann ich alle meine Freunde beeindrucken. Das macht man ja nur aus sich selber heraus. Meine Studierenden an der Frankfurter Musikhochschule habe ich in der ersten Unterrichtsstunde gefragt: „Warum studierst du Blockflöte?“ Niemand hat gesagt: „Weil das ein so angesehener Beruf ist und ich damit bestimmt berühmt werde.“ Manche sind pädagogisch interessiert, aber viele wollen, so wie das auch bei mir der Fall war, eine Sprache weiterentwickeln, die sie bereits haben. Ich habe hier an der Musikschule in Siegen das Grundvokabular gelernt, und es war für mich gar nicht so sehr die Frage, studiere ich jetzt Alte Musik oder Neue Musik oder seltsame Musik oder normale Musik, sondern ich wollte mein Grundvokabular, in dem ich Drei- bis Fünf-Wort-Sätze formulieren konnte, weiterentwickeln, das Vokabular des rhetorischen Musizierens. Ich bin dann zu Han Tol nach Bremen gegangen, der für mich ein unglaublicher musikalischer Rhetoriker ist, der einem beibringen kann, wie man auf der Flöte nicht etwa nur spielt, sondern erzählt und spricht, was übrigens auch schon bei Ganassi steht. „Elan vital“ ist eigentlich ein schönes Wort. Für mich gab es nichts anderes, ich konnte nichts anderes, und ich hatte auch keine andere Idee. 

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Das Musikensemble Prisma mit der Blockflötistin Elisabeth Champollion konzertiert vor Publikum
Elisabeth Champollion mit dem Ensemble Prisma  
Photo:  Holger Nitschke

LORBER: Herr Goebel, wie erleben Sie ihre Studierenden in Salzburg? Ton Koopman, der gerade 80 Jahre alt geworden ist, hat schon 2003 in einem Interview beklagt, dass er bei der jüngeren Generation eine mangelnde Begeisterungsfähigkeit feststelle, dass sie sich auf den Erkenntnissen und Errungenschaften seiner Generation ausruhten und nicht mehr denselben Forschergeist und Forscherdrang hätten. Erleben Sie das heute auch so?

GOEBEL: Schön, wenn sie das täten, wenn sie sich auf den Ergebnissen wenigstens ausruhen würden. Im Ernst: Ich sage meinen Studierenden oft: „Du musst, was ich dir erzähle, jetzt nicht beherrschen, aber wenn du dich in 20 Jahren daran erinnerst, dass der Goebel dir dies oder das erzählt hat, solltest du darauf zurückkommen können.“ Als junger Student hatte ich tatsächlich einen unglaublichen Elan, sodass mich meine Lehrer zurechtweisen mussten. Ich bin an der Kölner Musikhochschule durch die Mensa gelaufen und fragte einen Kommilitonen: „Hast Du heute Unterricht bei Franzjosef Maier?“ Als der absagte, habe ich kurzerhand seine Stunde übernommen und am nächsten Tag wieder, bis Maier sagte: „Nein, heute nicht!“

LORBER: Was konnte man denn insbesondere von Franzjosef Maier lernen, einem der Pioniere der Alten Musik in Köln und Konzertmeister des legendären Collegium aureum? 

GOEBEL: Ich lernte vor allem seine Bogentechnik. Wir haben ja mit dem Bogen zwei Richtungen. Bildlich gesprochen, wird in der einen Richtung der Bogen von der Erde angezogen und in der anderen geht es mit Kraftaufwand nach oben. Der Maier hatte seine Orchesterpartien im Collegium aureum immer „barrierefrei“ angelegt: Wenn da noch drei Achtel zu spielen waren, hat er das immer unter einen Bogen genommen, anstatt zu wechseln. Und dabei sollten die Noten alle gestochen scharf sein. Ich nenne so etwas Binnenorganisation einer Stimme, was sehr wichtig ist.

CHAMPOLLION: Bei der Geige geht es in zwei Richtungen, wie Sie gesagt haben. Bei der Blockflöte ist natürlich alles irgendwie versteckt im Mund. Die Blasinstrumente können einfache Artikulation ausführen, doppelte Artikulation, dreifache Artikulation, vierfache Artikulation und alle Derivate von eins, zwei und drei. Die Luft geht zwar immer nach vorne, aber das, was mit dem Bogen passiert, das ist ja vielmehr vergleichbar mit der Zungentechnik und die hat einen viel natürlicheren Zugang zu drei und fünf und sieben und zu den ungeraden Zahlen als der Bogen. 

LORBER: Die Blockflöte ist ja ein Instrument, das in der Alten Musik Konjunktur hat, wenn man an Stars der Szene wie Dorothee Oberlinger, Maurice Steger oder Stefan Temmingh denkt. 

CHAMPOLLION: Das ist aktuell sicher richtig. Das hat wahrscheinlich auch zu tun mit der Mentalität von Blockflötist:innen, denn es sind, wenn wir uns die heutigen Alte Musik-Ensembles anschauen, meistens die Leute an der Blockflöte, die organisieren, die sich um die Finanzen kümmern, die Noten verwalten usw. Ich leite seit über zehn Jahren eine Konzertreihe in Bremen und da kommen auch viele junge Ensembles aus ganz Europa. Schon aus Gewohnheit spreche ich, wenn es um das Programm geht, um das Hotel oder die Proben, immer die mit der Blockflöte an. Die sind oft die Lokomotiven in einem solchen Ensemble. Das hat, glaube ich, damit zu tun, dass bei Blockflötist:innen selten das Telefon klingelt mit einer Konzertanfrage. Denn die Welt braucht sie eigentlich nicht. Sie müssen sich die Nachfrage quasi selbst erzeugen, was eine große Kreativität erfordert. 

LORBER: Da komme ich gleich noch einmal darauf zurück, was diese Notwendigkeit zur Kreativität anbelangt. Aber jetzt erstmal die Frage an Reinhard Goebel, wie hat sich Musica Antiqua Köln organisiert?

GOEBEL: Ich war das Haupt und das Herz von Musica Antiqua Köln. Ich war das musikwissenschaftliche Gewissen, und ich war das Repertoire. Ich reiste durchaus nach Paris, um ein Stück abzuschreiben, und ich ging den Mitarbeitern des Deutschen Historischen Institut in Rom derartig auf die Nerven, dass die sagten: „Ja, wir schicken jemand nach Neapel, der wird dann das Manuskript fotografieren.“ Und so war ich der Erste, der sich mit dieser Sammlung der 24 Blockflötenkonzerte, den „Concerti di Flauto, Violini, Violetta e Basso Di Diversi Autori“ beschäftigte und eine Plattenaufnahme machte. 

LORBER: Frau Champollion: Gerade sagten Sie, man müsse bei der Repertoirefindung kreativ sein. Meinen Sie damit auch, dass man über die Grenzen der Alten Musik hinausgehen muss?

CHAMPOLLION: Man muss ja immer über das hinausgehen, was im Notentext steht. Das kann man auch schon bei Nikolaus Harnoncourt lesen, der sich vehement dagegen gewandt hat, „bloß“ authentisch zu sein. Bei mir als Blockflötistin bezieht sich die Kreativität nicht nur darauf, dass ich mir Stücke, die für andere Instrumenten vorgesehen waren, für mich einrichte. Das habe ich vor 10 Jahren gemacht. Es hat mir viel Spaß gemacht, Corelli-Sonaten auf der Blockflöte zu spielen etc. Was mich als jemand, der der jüngeren Generation angehört, heute besonders interessiert, ist, einen gesellschaftlichen Ansatz zu verfolgen, z. B. durch alternative Konzertformate oder das Einbeziehen von inklusiven Komponenten, also jüngere Menschen anzusprechen oder Menschen unterschiedlicher Herkunft. Ich denke, dass ich mich damit durchaus in einer Tradition bewege, wie ich sie aus den alten Traktaten herauslese: Musik soll die Menschen erreichen, früher vielleicht religiös einstimmen, am Hof unterhalten oder in Euphorie für einen Kriegszug stimmen. Musik war immer für einen Zweck bestimmt. Und einen bestimmten Zweck verfolge ich auch mit meiner Musik heute. 

LORBER: Es reicht also nicht mehr, um sich erfolgreich im Musikmarkt zu bewegen, sich das Signum der Alten Musik anzuheften, auf historischen Instrumenten zu spielen und Traktate gelesen zu haben, sondern es muss immer noch ein Alleinstellungsmerkmal dazukommen, z. B. dramaturgischer Art. Sie haben es mit dem Begriff „gesellschaftlicher Ansatz“ angedeutet. Man könnte auch mutmaßen, die Darbietungsform des klassischen Konzerts, wie ausgefeilt das Programm auch sein mag, reicht nicht mehr aus, um erfolgreich sein zu können.

CHAMPOLLION: Das sind alles Variationen des gleichen Themas. Der eine legt Yogamatten in der Kirche aus, der andere integriert Tanz und der dritte moderne Musik. Wir wollen ja alle mehr oder weniger das Gleiche, nämlich die vierte Wand überwinden und die Menschen erreichen, weil wir es wollen und weil wir es müssen. Ich habe heute Morgen noch bei Nikolaus Harnoncourt in seinem Buch „Musik als Klangrede“ in der Einleitung gelesen, dass die zeitgenössische Musik die Menschen verstöre, weil sie gewohnt seien, Musik nur noch als bloß schön, als Ornament wahrzunehmen. Das Buch stammt aus dem Jahr 1982. Das ist heute ganz anders. Viele Ensembles der Alten Musik bedienen sich auch der aktuellen Musiksprache und lassen heutige Komponist:innen für sich schreiben, weil die Musik mittlerweile alles andere als unanhörbar ist. Ich verfolge das auch, indem ich sogenannte Alte Musik und sogenannte Neue Musik in meinen Konzerten zusammenbringe.

LORBER: Sie haben ja das Ensemble Volcania gegründet, dessen dramaturgische Leitidee darin besteht, lebende Komponistinnen und Komponisten anzuregen, Werke im Geiste der Alten Musik zu schreiben, wenn ich das richtig verstanden habe.

CHAMPOLLION: Das ist genau richtig, nicht im Stile der Alten Musik, sondern aus dem Geist. Die neuen Kompositionen erklingen in unmittelbarer Nachbarschaft zu barocken Concerti. Da werden z. B. moderne Blockflöten-Concerti mit Vivaldi kombiniert, alles auf den historischen Instrumenten. Was mich an der Musik von Vivaldi reizt, sind die klar definierten Affekte. Dort spürt man immer ganz genau, wann ausgelassen getanzt wird und wann die Geister erscheinen, die einen fürchten lassen. In dieser Art sind auch die neuen Concerti geschrieben, aus demselben Geist. Ich erlebe immer wieder, dass das Publikum zu mir sagt: „Ich wusste gar nicht, wie toll Neue Musik klingen kann.“

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LORBER: Herr Goebel, was halten Sie von solchen Unternehmungen?

GOEBEL: Als „gewesener“ Geiger war und bin ich darauf nicht so sehr angewiesen, denn wir haben, anders als bei der Blockflöte oder selbst der Traversflöte, einen unglaublichen Schatz von Musik, den es zu entdecken und zu spielen gilt. Die Geigen sind ja sehr persönliche Instrumente. Die liegen ganz nah an der Seele und am Körper. Wenn ich unterrichte, möchte ich, dass meine Schülerinnen und Schüler ihre individuelle Sprache erlernen. Dabei kommt es mir sehr auf das an, was ich als künstlerische Feinstmotorik bezeichne. Das sind letztlich die Feinheiten der Bogenführung, denn die formt ja unseren Stil, weniger die linke Hand, da kann ich nur sauber oder unsauber spielen oder hörbare oder unhörbare Lagenwechsel. Solche im engeren Sinn künstlerischen Dinge stehen für mich im Vordergrund.

LORBER: Ein wesentliches Kriterium bei der Alte Musik-Bewegung waren und sind ja die historischen Instrumente. Welche Rolle spielen dann die historischen Instrumente überhaupt noch, wenn Sie sagen, es kommt auf die Individualität des Spielers an?

GOEBEL: Die Original-Instrumente spielen eine sehr große Rolle. Bei Musica Antiqua Köln hatten wir eine wunderbare Sammlung an Streichinstrumenten, drei Geigen von Jacobus Stainer, ein Instrument von Pietro Giacomo Rogeri, Bratschen von Leopold Widhalm und Matthias Klotz.

LORBER: Der Geiger Richard Gwilt, der Barockvioline an der Kölner Musikhochschule lehrt, meinte, es komme gar nicht so sehr auf die Instrumente an. Es müssen schon historische Instrumente sein, aber nicht für jedes Jahrhundert ein anderes Instrument. Es komme vor allen Dingen auf die verschiedenen Bogentypen an, die man einsetzt. Da muss man historisch genau sein, kann aber auch Nachbauten verwenden.

GOEBEL: Stimmt. Aber trotzdem muss ich eine Anekdote von meinem Lehrer Franzjosef Maier erzählen. Er hatte die „Haffner-Serenade“ von Mozart für Harmonia Mundi aufgenommen, und später stellte man fest, dass in der Kadenz ein Takt vergessen wurde und einer sehr unsauber war. Die Aufnahme hatte er auf seiner Barockgeige von Michel Deconetti gemacht im Zedernsaal in Kirchheim. Es musste dann schnell gehen, und er ist mit seiner Vuillaume-Geige und einem modernen Bogen für die Korrekturen ins Kölner WDR-Funkhaus gegangen und sagte später: „Jetzt hören Sie mal, welcher Takt ist denn nun mit dem modernen Bogen gespielt?“ Es ist nicht herauszuhören. Man kann mit jedem Bogen alles spielen, man kann nur bestimmte Sachen mit einem bestimmten Bogen besser spielen. Und dann kommt es doch vor allem auf die individuelle Führung an.

LORBER: Noch einmal zu Repertoirefragen. 1986 haben Sie die „Brandenburgischen Konzerte“ zum ersten Mal aufgenommen und 2017 noch einmal mit den Berliner Barock Solisten. Wie hat sich Ihre Perspektive auf diesen Zyklus verändert?

GOEBEL: Mich interessiert jetzt beispielsweise die Frage, warum kommt der Widmungsträger Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt nicht in den Berichten der Bach-Söhne vor? Könnten wir uns unter Umständen auch vorstellen, dass es die „Brandenburgischen Konzerte“ gar nicht bis nach Berlin geschafft haben? Wo ist der Beweis dafür? Mich interessieren jetzt mehr die gesellschaftlichen Hintergründe, wie eine Musik in ihrer Zeit sozial verortet ist. Ein anderes Beispiel, die Concerti für drei Violinen von Jean-Marie Leclair. Kann man aus dieser Besetzung vielleicht eine versteckte Antikenliebe herauslesen, eine Anspielung auf die drei Göttinnen, die vor Paris erscheinen und sich vor ihm aufbäumen, in diesem Fall auf musikalische Weise? Solche Quellen und Umstände der Werkgenese bis zur musikalischen Erfindung interessieren mich heute.

Reinhard Goebel dirigiert.
Reinhard Goebel  
Photo:  Gert Mothes
Reinhard Goebel dirigiert das Neue Bachische Collegium Musicum bei einer CD-Aufnahme
CD-Aufnahme mit Reinhard Goebel und dem Neuen Bachischen Collegium Musicum  
Photo:  Gert Mothes
Reinhard Goebel im Gespräch mit der Cembalistin Mimoe Todo
Reinhard Goebel und die Cembalistin Mimoe Todo bei einer CD-Aufnahme mit dem Neuen Bachischen Collegium Musicum  
Photo:  Gert Mothes
Reinhard Goebel mit der Cellistin Konstanze Pietschmann, dem Cellisten Moritz Klauk und dem Kontrabassisten Waldemar Schwiertz bei einer CD-Aufnahme mit dem Neuen Bachischen Collegium Musicum
Reinhard Goebel mit der Cellistin Konstanze Pietschmann, dem Cellisten Moritz Klauk und dem Kontrabassisten Waldemar Schwiertz bei einer CD-Aufnahme mit dem Neuen Bachischen Collegium Musicum  
Photo:  Gert Mothes
Reinhard Goebel und Peter Borck bei der Kontrolle der Aufnahmen des Neuen Bachischem Collegium Musicum
Reinhard Goebel und Peter Borck bei der Kontrolle der Aufnahmen des Neuen Bachischem Collegium Musicum  
Photo:  Gert Mothes

LORBER:Wie kam es überhaupt zu der Aufnahme der „Brandenburgischen Konzerte“ mit Musica Antiqua Köln? Anfangs haben Sie doch einen Bogen um das gängige Repertoire gemacht.

GOEBEL: Tatsächlich war ich vor allem an der Musik des 17. Jahrhunderts interessiert, Heinrich Schütz, Carlo Farina, allenfalls Heinrich Ignaz Franz Biber. Dr. Holschneider, der Produzent bei der Deutschen Grammophon, hat mich gefragt, ob ich die „Brandenburgischen Konzerte“ aufnehmen wollte. „Vielleicht in fünf Jahren“, habe ich geantwortet. Und dann habe ich angefangen zu arbeiten und mir systematisch das Repertoire des 18. Jahrhunderts erschlossen, auch die Musik der Dresdner Hofkapelle, die Werke von Johann David Heinichen und anderen. 

CHAMPOLLION: Aber wie sind Sie denn zu Ihrer Interpretation gekommen, z. B. beim Schlusssatz des dritten „Brandenburgischen Konzerts“, der ja in einem atemberaubenden Tempo abläuft und noch nicht einmal vier Minuten bei Ihnen dauert und sich anhört wie eine Achterbahnfahrt. Wie haben Sie das bewerkstelligt?

GOEBEL: Das Stück steht ja im 12/8-Takt Allegro. Das bedeutet, das Tempo ist dasselbe wie im ersten Satz. Der Eindruck der Beschleunigung entsteht durch die Triolen und die 16tel-Brechung. Ich hatte mir damals eine Anlage gebaut, die den Metronomschlag links und rechts hinter dem Ensemble verstärkt hat. Damit wurden die Leute, die die Achtel zu spielen hatten, beschallt. Und dann haben wir einfach geübt. So schwer war es am Ende gar nicht. Aber das Publikum, das die Platten kaufte, war total entsetzt, es gab körbeweise Briefe an die Deutsche Grammophon, zum Teil wurden die Platten zurückgeschickt. Auch hier denke ich an den sozialen Zusammenhang, die mutmaßliche Entstehungssituation des Werks. Widmungsträger ist ja Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt, aber entstanden sind die Konzerte schon früher, als Bach in Weimar und Köthen war. Sein Dienstherr dort war der Fürst Leopold, von dem man weiß, dass er musikbegeistert war. Könnte man sich nicht vorstellen, dass der Fürst zu Bach sagte: „Nehmen Sie keine Rücksicht auf irgendwelche technischen Schwierigkeiten, wir haben doch den fabelhaften Konzertmeister Joseph Spieß bei uns.“ Ich meine die Begeisterung, mit der der Dienstherr auf seine Musiker eingewirkt hatte, könnte doch auch eine Rolle gespielt haben, wie diese Konzerte am Ende klingen.

LORBER: Frau Champollion, Sie haben drei Ensemble, die ganz unterschiedlich besetzt sind. Das Boreas Quartett Bremen ist ein Blockflötenquartett. Dann gibt es das Ensemble PRISMA. Da spielt ein Lautenist, eine Gambistin, eine Geigerin und Sie die Blockflöte, und dann gibt es noch das Ensemble Volcania in der Besetzung Blockflöte, Streicher, Laute und Harfe. Welche Rolle spielen die historischen Instrumente in ihren Ensembles? 

CHAMPOLLION: Bei den gemischten Ensembles ist ja jeder für sein Instrument verantwortlich, da lebt und zehrt jeder von uns von den Erkenntnissen unserer Vorgängergeneration, während wir im Boreas Quartett, das wir schon zu Studienzeiten gegründet haben, eine sehr ausführliche Diskussion über die Instrumente geführt haben. Wir spielen natürlich keine Originale aus dem 15. Jahrhundert, die wären schon „verschimmelt“, sondern Nachbauten von Instrumenten von Mathes Schnitzer aus Nürnberg. Wir haben zu viert ein Set bestellt, das aus 14 Instrumenten besteht, auf denen wir das süddeutsche Repertoire genauso spielen wie englische Consortmusik und auch das niederländische Repertoire. Das kann man sich vorstellen wie Orgelpfeifen: Die kleinste Flöte ist gerade mal 30 cm lang, die größte 1,60 m mit Anblasrohr. Das Wichtigste ist dabei, dass die Instrumente genau aufeinander abgestimmt sind und aus einer Hand kommen, das ist wichtiger als eine wie auch immer geartete historische Authentizität.

LORBER: Eine Kollegin von Ihnen, die Oboistin Lola Soulier, forscht sehr viel über die frühen Oboen. Sie ist zu dem Befund gelangt, dass das, was man heute Barockoboe nennt und auch die Spielweise der heutigen Barockoboist:innen, eine Mischung aus historischen und modernen Ansätzen ist und keineswegs die ursprünglichen Verhältnisse abbildet.

CHAMPOLLION: Das würde ich auch für die Blockflöte sofort zugestehen. Bei uns stehen Fragen des Instrumentenbaus nicht so sehr im Vordergrund, denn die Blockflöte ist im Grunde nichts anderes als ein Schilfrohr mit Löchern, ganz anders als kompliziert gebaute Instrumente wie Oboen, Fagotte oder gar die Orgel. Wenn ich mich mit dem Instrumentenbau beschäftige, dann nur hinsichtlich des Klangs, den ich erzielen will. Mir geht es nicht so sehr darum, dass mein Instrument klingt wie das von Ganassi im 16. Jahrhundert oder wie später die Instrumente, die am Hof von Ludwig XIV. in Gebrauch waren und deren Musik z. B. in der Philidor-Sammlung überliefert ist, sondern ich frage mich, wie sieht meine Arbeitsrealität aus. In welchem Saal spiele ich, in einem Konzertsaal, bei einem Festival oder in einer kleinen Kirche, was dann sehr gut zu den Renaissanceblockflöten passt. Insofern gebe ich Lola Soulier recht, es ist in jeder Hinsicht eine Mischung aus historisch und heutig, aber ich begreife das für die Blockflöte nicht als Defizit.

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Drei Mitglieder des Ensembles Prisma beim Konzert
Ensemble Prisma  
Photo:  Clovis Michon

LORBER: Und bei den Geigeninstrumenten?

GOEBEL: Da verfolgen wir ein modernes Klangempfinden auch bei den historischen Instrumenten. Es geht um das Ideal einer ausgeglichenen Geige, bei der keine Brüche zwischen den einzelnen Saiten zu hören sind. Das ist eine moderne Auffassung. Mein Ideal sind die Geigen von Jacobus Stainer, und ich hatte Musica Antiqua Köln darauf eingestellt mit drei Stainer-Geigen. Wir wissen aber nicht, wie eine Geige von Stainer früher geklungen hat. Ich hatte einmal eine Nürnberger Geige aus dem späten 17. Jahrhundert im Originalzustand in der Hand. Die klang grauenhaft. Wir spielen für moderne Hörer Alte Musik und sind damit sowieso zwischen den Zeiten. Wenn wir ganz modern wären, würden wir Pop-Musik machen oder E-Musik, aber nicht auf alten Instrumenten. Für mich haben immer moderne Standards gegolten, und sie werden von mir nie gehört haben: „Ja, das war früher eben so, dass das hier quietschte und gekratzt hat.“ In einem Interview habe ich einmal gesagt: „Ich möchte im Grunde genommen nur von den Kolleg:innen aus den Berliner Philharmonikern gelobt werden.“ Und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich war, als sie mich fragten, ob ich mit ihnen bei den Berliner Barock Solisten zusammenarbeiten möchte – auf modernen Instrumenten. Wenn mit alten Instrumenten, dann nur mit den besten. Das ist für junge Musikerinnen und Musiker heute schwierig. Ich habe für meine erste „Stainer“ 45.000 Mark bezahlt, unvorstellbar heute.

LORBER: Reinhard Goebel hat vorher den Plattenproduzent Andreas Holschneider erwähnt. Wenn ich es richtig einschätze, konnten die Ensembles auch der Alten Musik früher gute Einnahmen erzielen durch die Schallplattenaufnahmen, und die Schallplattenaufnahmen haben auch zu einer großen Bekanntheit der Ensembles beigetragen. Ist das heute auch noch so? 

CHAMPOLLION: Also durch Schallplattenaufnahmen erziele ich meine Ausgaben! Es soll ja Zeiten gegeben haben, als die Plattenfirmen die Kosten für die Aufnahme bezahlt haben und für die Musiker:innen auch noch ein Tagessatz möglich war. Das gibt es meines Wissens heute praktisch nicht mehr. Trotzdem sind Aufnahmen und CDs wichtig als musikalische Visitenkarte. Die 20.000 Euro, die das Ensemble insgesamt für eine Aufnahme bezahlt, weil der Tonmeister schon 800 Euro am Tag nimmt und 80 Euro pro Stunde für die Postproduktion sowie die Kosten für den Aufnahmeraum, das Layout etc., dieses Geld ist eine Investition in unseren Bekanntheitsgrad. Aber mittlerweile geht es auch anders, weil wir Musiker uns daran gewöhnt haben, vieles selbst zu machen, um brauchbare Audio- und Videoaufnahmen herzustellen, und uns von den Firmen und der Technik unabhängig gemacht haben. Unsere Aufnahmen können wir dann auch selbst vertreiben über die Plattformen und Streamingdienste.

LORBER: Wovon lebt denn eine Musikerin der jüngeren Generation, die freiberuflich tätig ist? 

CHAMPOLLION: Von Konzertgagen. Wir verkaufen die CDs nach den Konzerten, und von dem Bargeld gehen wir dann abends schön essen. Die Studierenden insbesondere im Sektor der Alten Musik sollten von Anfang im Blick haben, wie man Konzertakquise betreibt. Ich habe mir erst nach dem Studium die Kenntnisse und Kniffe angeeignet, um die Gagen so zu bemessen, dass meine Angebote bei den Veranstaltern nicht gleich in den Papierkorb befördert wurden und so zu verhandeln, dass ich davon meine Miete, meine Instrumente und mein Leben finanzieren konnte. Weiteres Geld kann man auch durch das Unterrichten erzielen, manchmal auch durch Publikationen. 

LORBER: Es gibt ja zur Zeit eine politische Diskussion zum Thema „Faire Honorare“. Das wurde auch im Koalitionsvertrag der „Ampelregierung“ thematisiert, und verschiedene Interessengruppen der freien Szene haben ein konkrete Tarifraster erarbeitet. Spüren Sie da bei sich Veränderungen in der letzten Zeit? 

CHAMPOLLION: Das betrifft ja vor allem die freiberuflichen Orchester, Musikerinnen und Musiker, bei denen das Telefon klingelt und die gefragt werden, ob sie nächstes Jahr da und dort bei einer „Matthäus-Passion“ mitspielen können. Da geht es dann darum, ob der Tagessatz 180, 190, 220 Euro oder noch höher liegen soll. Ich verhandele ja immer für ein Quartett. Und wenn es dann heißt, 75 Minuten Musik sollen 4.000 Euro kosten, höre ich öfters, das sei ja ein toller Stundenlohn. Als ob wir 8 Stunden am Tag Konzerte spielen würden … Den berechtigten Honorarerwartungen der freien Orchester stehen aber geringer werdende Kulturbudgets gegenüber. Die Folge wird sein, dass es einfach weniger Konzerte geben wird und damit auch weniger Beschäftigungsmöglichkeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine wünschenswerte Entwicklung ist.

GOEBEL: Man sollte einmal untersuchen, ob wir eventuell zu viele Musiker:innen ausbilden, die sich dann gegenseitig auf die Füße treten. Bei Musica Antiqua Köln habe ich bewusst den „Markt“ klein gehalten.

LORBER: Was heißt das?

GOEBEL: Das heißt, dass ich bei der Auswahl der Mitwirkenden sehr dezidiert vorgegangen bin und deren Zahl bewusst klein gehalten habe. Ich meine, das sollte auch beim Unterrichten gelten, dass man nur Leute in die Klasse nimmt, die Chancen auf ein erfolgreiches Berufsleben haben. Zu mir kam einmal jemand mit dem Geigenkasten, dem ich sagen musste, er möge sich überlegen, die Geige nur noch unter dem Weihnachtsbaum zu spielen. Er absolvierte dann ein grandioses wissenschaftliches Studium und leitet heute ein wichtiges musikwissenschaftliches Institut. Da sind wir wieder bei dem, was wir am Anfang besprochen haben: Ohne Elan, Begeisterung, Begabung und Witz geht es nicht.

CHAMPOLLION: Ich finde diese Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber den Studierenden sehr verantwortungsvoll. Ich glaube, damit kann man viele Existenzen retten. Denn woher sollen die jungen Leute mit 18 oder 19 Jahren wissen, was sie auf dem Musikmarkt erwartet und welche Chancen sie haben.

LORBER: Früher gab es ja das Vorurteil, wer auf dem normalen Klassikmarkt nicht erfolgreich sein konnte als Solist oder auch als Orchestermusiker, der ist in die Alte Musik gegangen, hat sich das Schild Historische Aufführungspraxis umgehängt und konnte dann seine Existenz sichern. 

GOEBEL: Solche Vorurteile und Vorbehalte gab es immer. Zu meiner Zeit an der Kölner Musikhochschule war der Cellist Siegfried Palm im Amt des Rektors, der dann Generalintendant der Deutschen Oper Berlin wurde. Er war ein Spezialist für Neue Musik. Seine Kollegen rümpften die Nase, weil er angeblich keine Beethoven-Sonate spielen konnte. Aber jedenfalls konnte er moderne Musik spielen, was auch nur wenige können. Um auf die Alte Musik zu kommen: Die Cappella Coloniensis hat in den 1950er und -60er-Jahren hervorragende Arbeit geleistet. Da spielten keine Musiker, die sonst nichts anderes konnten. August Wenzinger z. B. war eine Lichtgestalt. Es wird aber immer Musiker:innen geben, die nicht zum Mainstream gehören, bei denen, die auf modernen Instrumenten spielen und auch in der Alte Musik-Szene. Als ich bei Marie Leonhardt studierte, gehörte ich nicht zum holländischen Mainstream, und Michala Petri, die eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat, gehörte auch nicht zum Blockflöten-Mainstream, der in den 1970er-Jahren doch eher noch von Personen wie Ferdinand Conrad, bei dem sie studiert hatte, Hans-Martin Linde und Günther Höller geprägt wurde.

CHAMPOLLION: Solche regionalen oder nationalen Szenen sind nach meinem Eindruck heute in der Alten Musik nicht mehr sehr ausgeprägt. 

LORBER: Das wäre das Stichwort Internationalität in der Alten Musik. Wie wichtig ist die heute? 

GOEBEL: Das war bei mir immer der Fall. Sie können sämtliche Besetzungslisten von Musica Antiqua Köln durchgehen: Da gab es immer Musikerinnen und Musiker aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Deutschland usw. Mir ging es vor allem darum, immer die besten jungen Leute holen. Aber die mussten dann nach Köln ziehen.

LORBER: Und heutzutage, Frau Champollion?

CHAMPOLLION: Ich glaube, dass die Internationalität, wie sie schon bei Musica Antiqua Köln geübt wurde, auch dazu beigetragen hat, dass die voneinander abgetrennten Schulen in meiner Generation aufgeweicht wurden. Mittlerweile gibt es ja europäisch ausgerichtete Förderprogramme wie z. B. EEEmerging-Programm, das von Frankreich aus betrieben wird, aber auf ganz Europa ausstrahlt. Auch die REMA, das europäische Netzwerk der Alten Musik, tut viel für den Austausch in der Europäischen Alte Musik-Szene.

LORBER: Letzte Frage von meiner Seite: Gibt es irgendetwas, das wir aus der Corona-Pandemie, speziell für die Alte Musik gelernt haben? Ich denke z. B. an digitale Formate oder andere neue Aufführungsmöglichkeiten von Alter Musik.

GOEBEL: Ich bin wahrscheinlich aus dem Alter heraus, meine Art Musik zu machen umzukrempeln. Als ich hörte, dass ganz Deutschland geschlossen werden sollte, saß ich in einer Kirche und habe Heinichen und Zelenka einstudiert. Dann bin ich nach Hause gefahren und habe mein Buch über die „Brandenburgischen Konzerte“ fertig geschrieben. Aber für die jungen Musikerinnen und Musiker war die Zeit furchtbar.

CHAMPOLLION: Eine Barockgeige klingt schrecklich über Zoom und eine Blockflöte auch. Vielleicht ist das mit den modernen Instrumenten nicht ganz so schlimm. Aber ich habe sehr gelitten darunter. Durch die Pandemie haben wir vielleicht das Bewusstsein dafür geschärft, wie fragil die Publikumsreaktionen sind, denn es ist ja nicht eingetreten, was alle gehofft haben, dass das Publikum wieder in unsere Konzerte kommt wie vorher.

LORBER: Und neue Konzertformen? Zum Beispiel eine „Johannes-Passion“ zu dritt, wie sie am Karfreitag 2020 in der Leipziger Thomaskirche aufgeführt wurde?

CHAMPOLLION: Das war ein genialer Einfall, der aber vermutlich, weil das so kluge Köpfe sind, die dahinter standen, die Cembalistin Elina Albach und ihre Mitstreiter, wahrscheinlich auch ohne die Pandemie zustande gekommen wäre, weil, wie wir ja vorher schon besprochen haben, die gesellschaftsrelevanten Dramaturgien immer wichtiger werden. Die Pandemie hat das vielleicht etwas beschleunigt.

Das Gespräch führte der WDR-Redakteur Richard Lorber Ende Oktober 2024 in Siegen, dem Heimatort der Künstlerin und des Künstlers. 

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Reinhard Goebel zwischen Komponistenbüsten.
Reinhard Goebel  
Photo:  Markus Bollen

Reinhard Goebel (* 1952) setzte neue Standards in der Historischen Aufführungspraxis, insbesondere mit seinen über 50 CD-Produktionen und dem 1973 gegründeten Ensemble Musica Antiqua Köln. Das Ensemble löste sich 2006 auf. Seitdem ist Reinhard Goebel ausschließlich als Dirigent tätig, mittlerweile auch und vor allem von Klangkörpern, die auf modernen Instrumenten spielen. Von 2010 bis Mitte 2025 hatte er am Mozarteum in Salzburg den Lehrstuhl für Historische Aufführungspraxis inne.

Die Blockflötistin Elisabeth Champollion (*1984) konzertiert mit ihren drei Ensembles Boreas Quartett Bremen, PRISMA und Ensemble Volcania seit über zehn Jahren in Deutschland, Europa und weltweit. Sie war Preisträgerin mehrerer Wettbewerbe, leitet Konzertreihen wie „Gröpelinger Barock“ und bis 2024 als künstlerische Geschäftsführerin den Sendesaal Bremen. An der Hochschule für Musik und Darstellenden Kunst Frankfurt/Main unterrichtet sie Blockflöte.