Vortrag von Michael Custodis
Vortrag von Michael Custodis bei der IAMIC-Konferenz in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg  
Foto:  German Music Information Centre
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine reflektiert Michael Custodis über den politischen Gehalt und die Politisierung von Musik.

Bald nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebte die Musikwelt eine neue Variante der alten Frage nach dem fragilen Verhältnis von Musik und Politik. Drei prominente Fälle betreffen Opern-Superstar Anna Netrebko sowie die Dirigenten Waleri Gergijew und Teodor Currentzis. Aufgrund ihres Zögerns bzw. Unwillens, sich von Wladimir Putin zu distanzieren und die Aggression Russlands zu verurteilen, mit der Anrainerstaaten in den zurückliegenden Jahren bedroht und destabilisiert wurden, verlor diese russische Musikprominenz innerhalb weniger Tage lukrative Verträge mit internationalen Ensembles und Institutionen oder musste sich zu kritischen Presseartikeln in Europa und den USA verhalten. Viele internationale Künstler*innen und Ensembles haben ihrerseits ihre Engagements an russischen Bühnen gekündigt und weigern sich, in naher Zukunft in Russland aufzutreten. Andere Initiativen bekunden ihre Verbundenheit mit der Ukraine entweder durch das Aufführen der ukrainischen Nationalhymne zu Beginn regulärer Konzerte, durch Programme mit ukrainischer Musik oder durch die Organisation von Sonderveranstaltungen, um Spenden für wohltätige Zwecke zu sammeln.

Inzwischen ist Anna Netrebko allerdings zurück auf deutschen Bühnen, so am 22. Juli 2022 bei den Regensburger Schlossfestspielen sowie am 30. August in der Kölner Philharmonie. Begleitet von öffentlichen Protesten lebte dabei auch der öffentliche Streit wieder auf, ob ihre politische Meinung eine künstlerische oder private Angelegenheit sei. Der Presse gegenüber verteidigte der Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort, die Sichtweise seines Hauses: „Wir haben in Köln keinen Grund zu sagen, Frau Netrebko darf nicht hier in der Stadt sein. Sie ist keine Staatsfeindin. Sie ist eine freie Bürgerin, die hier durchs Land gehen darf. […] Vor zwei Jahren ist der Mietvertrag mit dem Veranstalter des Konzerts, der ‚handwerker promotion e. gmbh‘, abgeschlossen worden und die Philharmonie kommt hier lediglich den Verträgen nach. Frau Netrebko ist eine ganz tolle Sängerin. Sie hat eine bestimmte politische Haltung, die ich absolut nicht teile. Aber ich kann ihr nichts vorwerfen.“ [1]

Die anhaltenden Kontroversen um putintreue Künstler*innen verdeutlichen ein weiteres Mal die Schwierigkeit, sich über Maßstäbe zur Diskussion solcher Fragen zu verständigen. Gleichzeitig kennen wir ähnliche Situationen, in denen wir um Antworten schlicht nicht herumkommen, wenn es unsere Meinung zu verteidigen oder Entscheidungen zu treffen gilt. Doch wo finden wir entsprechende Verhaltenskodizes? Setzen (selbst wiederum strittige) politische Wertmaßstäbe traditionelle kunstimmanente Konventionen zur musikalischen Autonomie außer Kraft, und wie weit reicht die im deutschen Grundgesetz verbriefte Freiheit der Kunst? Wie provokant beispielsweise war Karlheinz Stockhausens Bemerkung zum 11. September 2001, die einstürzenden Türme des New Yorker World Trade Center seien „Das größte Kunstwerk aller Zeiten“? [2] Die gleichen drastischen Kunstmaßstäbe beanspruchte bereits knapp 100 Jahre zuvor der Futurismus für sich, dessen Protagonisten die industriellen Dimensionen von Zerstörung und Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs als Klangrevolution bejubelten. Stehen diese beiden Beispiele für dieselbe Frage? Oder spüren einige von uns einen Unterschied, und falls ja, weshalb? Liegt es daran, dass sich die Ereignisse des 11. September in unserem eigenen Gedächtnis als persönliches Erleben verankert haben? Im Gegensatz dazu ereignete sich die futuristische Verherrlichung von Gewalt bereits vor unserer eigenen Lebensspanne, so dass wir sie nur als geschichtliche Erfahrung über hinterlassene Quellen rezipieren können.

Sicherlich ist bereits nach diesen kurzen Ausführungen zu erahnen, wie verwinkelt und kontrovers das Thema „Musik und Politik“ ist. Um einer anschließenden Diskussion eine gemeinsame Grundlage zu bieten, möchte ich zunächst einige historische und systematische Referenzpunkte zusammenfassen, um daran anknüpfend entlang einiger Beispiele die sehr aktuelle ideologische Vereinnahmung von Musik und Kulturgeschichte zu ergänzen.

Musik und Politik als Antagonismus – Anmerkungen zu einer sozialen Konvention

Das Verhältnis von Musik und Politik basiert in erster Linie auf einer gesellschaftlichen und kulturellen Konvention, einer über Jahrhunderte gewachsenen, an immer neue Anforderungen angepassten und von Generation zu Generation tradierten Übereinkunft zwischen Individuen und sozialen Gruppen. Die beiden denkbar widersprüchlichsten Annahmen sind vermutlich, dass Musik und Politik entweder lediglich zwei Seiten derselben Medaille sind oder dass Musik eine autonome Welt für sich eröffnet, in der alle gesellschaftlichen Normen außer Kraft gesetzt sind. Eine Antwort auf die daraus hervorgehenden Fragen, ob „jede Musik eine politische Haltung in sich trägt“ beziehungsweise ob „Musik eine Welt für sich ist“, findet sich üblicherweise nicht in der Musik selbst, es sei denn, Texte formulieren eine unmissverständliche Aussage.

So begrenzt die Zahl der Parameter in diesem gesellschaftlichen Verständnis von Musik und Politik ist, so grenzenlos sind die individuellen und kollektiven Ausgestaltungen: In Bezug auf klassische europäische Musik postulieren die beiden prominentesten ästhetischen Haltungen entweder produktions- oder rezeptionsästhetische Ansätze. Das Beispiel von Konzerten Wilhelm Furtwänglers in Anwesenheit Adolf Hitlers verdeutlicht den hier zugrundeliegenden Streit: Der Dirigent und seine Verteidiger bestanden immer darauf, dass Furtwänglers Interpretationen von Beethoven, Wagner und anderen „germanischen Musiktitanen“ das jeweilige Konzert in ein politisches Vakuum verwandelte, in dem nur die Regeln und Gepflogenheiten der Kunst von Bedeutung waren. Furtwänglers Kritiker dagegen beharrten darauf, dass ein Konzert für Hitler und die Führungsriege des NS-Staates niemals außerhalb der politischen Rahmenbedingungen diskutiert werden könne. [3] Limitieren wir hier also Musik auf das Repertoire einschließlich der künstlerischen Meisterschaft der Interpret*innen oder sprechen wir über ein Konzert als soziale Angelegenheit?

Seitens der Politik kann der soziale Einfluss auf Musik jedenfalls sehr stark sein und Werken, die ursprünglich überhaupt keine politischen Botschaften enthielten, einen Subtext verleihen. Gestatten Sie mir ein Beispiel: Am 12. Dezember 1941 gaben einige Musiker, die nachweislich dem zivilen Widerstand gegen die deutsche Besetzung Norwegens zuzurechnen sind, ein Konzert in Oslos Frogner-Kirche. Unter der Leitung von Dirigentin Jenny Guldahl wurden Stücke von Dietrich Buxtehude, Franz Schubert, Antonio Sacchini, Georg Friedrich Händel, Nils Larsen, Oskar Merikanto, Sparre Olsen, Agathe Backer Grøndahl und Edvard Grieg gespielt. Auf dem Programm stand aber auch Musik von Robert Kahn, Felix Mendelssohn, Anton Rubinstein und Peter Tschaikowsky. Um für dieses Konzert zu werben, zögerten die Musiker nicht einmal, die Namen der Komponisten und der Komponistin auf das offizielle Plakat zu drucken, womit sie ein bewusstes politisches Zeichen setzten gegen das offizielle Aufführungsverbot für jüdische Komponisten sowie von Werken aus Ländern, gegen die Deutschland Krieg führte. Weder waren die norwegischen Musiker bereit, eine Trennung in legales und illegales Repertoire zu akzeptierten, noch wollten sie der NS-Propaganda die Deutungshoheit über klassische Musik aus Deutschland überlassen. [4]

Darüber hinaus berührt dieses Beispiel auch die Differenz von Zentrum und Peripherie unter den Bedingungen einer Diktatur: In einem Zentrum kann man aufgrund der vielen dort vorhandenen Musikinteressierten, der zahlreichen dort auftretenden und beheimateten Interpret*innen und der großen Anzahl regelmäßig veranstalteter Konzerte üblicherweise sowohl bei den Zensurbehörden als auch beim Publikum einen gesteigerten Sachverstand voraussetzen. Je weiter man dagegen an den Rand einer Musikkultur vordringt, desto mehr individuelles Geschick und Wissen ist auf Seiten der Zensur gefragt, um Regelverstöße zu erkennen, während Konzertveranstalter und Musiker*innen die mangelnde musikalische Kompetenz der Behörden zu ihren Gunsten zu nutzen versuchen.

Historische Meilensteine

Mit Blick in die Geschichte der Dichotomie von „Musik“ und „Politik“ findet sich ein erster Eckpfeiler bei Platons oft zitierter Staatstheorie. Für Platon wurde die Musik zur Bedrohung, sobald bestimmte Modi und Melodien, die alte, traditionelle Werte repräsentierten, zu progressiv verwendet wurden. Seiner Meinung nach schürte musikalischer Innovationsdrang soziale Unruhen einschließlich staatsgefährdender Konsequenzen. Denn stellte die junge Generation die Grundlagen der Bildung in Frage, würde damit das gesamte politische System geschwächt. Daher plädierte Platon für eine allgemeine Musikkontrolle zum Schutz von Staat und Verfassung.

Wie Anastasios Giannarás 1975 betonte, scheinen solche Befürchtungen modernen Generationen fremd, die musikalische Innovation als eine Notwendigkeit und als natürliches Recht der Künste verstehen. [5] Dennoch lässt sich an zahlreichen Beispielen nachvollziehen, wie das Verhältnis von musikalischer und politischer Revolution im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein ständiger Streitpunkt blieb. Über Jahrhunderte war das Lob von Monarchen, kirchlichen Würdenträgern und Mäzenen nicht nur eine übliche, sondern selbstverständliche Pflicht der Kunst. Als das Zeitalter der Aufklärung die Parameter des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens in Europa grundlegend veränderte, wurde die Idee der Autonomie allerdings auch für die Musik zum Wendepunkt. Es war Immanuel Kant, der die Notwendigkeit und den Zweck der Künste vom Diktat äußerer Institutionen lossagte, da Kunst nur aus den inneren Impulsen der Künste selbst entstehen könne, um der moralischen Läuterung der Menschheit zu dienen. Friedrich Schiller übersetzte Kants philosophische Forderungen konsequent in die künstlerische Praxis, indem er die Kunst als eine von subjektiven Zwecken freie Sphäre definierte, damit diese ihrer Verantwortung zur Förderung der Freiheit und der Verbesserung des Menschen nachkommen kann.

Das Paradoxon, dass die nützlichste Kunst nur entstehen kann, wenn man ihren Nutzen gerade nicht definiert – verdichtet in der Idee künstlerischer Autonomie und „absoluter Musik“ –, wird uns noch eine Weile begleiten. In den Jahrzehnten, die grob mit den Generationen zwischen Beethoven und Wagner umrissen werden können, durchlief die Idee der musikalischen Autonomie mehrere Modifikationen. Wenn hierfür stellvertretend ein Protagonist erwähnt werden sollte, dessen Meinung nachhaltige Wirkung hinterlassen hat, dann sicherlich Eduard Hanslick. Er sah einen Unterschied zwischen funktionaler Musik (für Zwecke wie liturgischen Gottesdienst, Tanz, Unterhaltung und kommerziellen Erfolg) und künstlerischer Musik, die er im Ideal abstrakter Instrumentalmusik, insbesondere sinfonischer Musik verwirklicht sah.

Obwohl der Begriff der „absoluten Musik“ nicht auf Deutschland beschränkt blieb, ergaben sich vor allem dort weitere Komplikation, als die sinfonische Idee zu einem national-deutschen Paradigma erhoben wurde. Bezeichnenderweise wurde dieses Paradigma aber nicht nur von deutschen Protagonisten proklamiert, sondern auch vom internationalen Publikum bestätigt. Man sprach hier von der sogenannten „Vorherrschaft der deutschen Musik“. Länder mit dominanten Operntraditionen dagegen erlebten keinen vergleichbaren Durchbruch musikalischer Autonomiedebatten. Dementsprechend wurde die Trennung von „Musik“ und „Politik“ zu einem Projekt vor allem des deutschen Bürgertums. „Kunstmusik“, „Tonkunst“, „ernste Musik“ (oder welches Synonym Sie auch immer bevorzugen) wurden als Reflex gegen die hochpolitisierten Zeiten des 19. Jahrhunderts zu einem sicheren Hafen für unpolitische Angelegenheiten. Man könnte sagen, dass die bürgerliche Ablehnung jeglicher politischer oder sonstiger Dominanz der Musik die Erfahrungen aus Zeiten widerspiegelte, als autokratische Regierungen und Souveräne ein natürliches Recht beanspruchten, jedes Element der Gesellschaft zu kontrollieren, zu definieren, zu zensieren und zu beherrschen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der Durchbruch der Moderne zu einem weiteren großen Konflikt in den Bereichen „Musik“ und „Politik“ zwischen Hörern, die klassisches und romantisches Repertoire bevorzugten, und Anhängern der radikalen Avantgarde. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde beinah jeder nach 1870 geborene europäische Künstler auf drastische Weise mit der Brutalität des politischen Konflikts konfrontiert. Zahlreiche Kompositionen, die unter dem Eindruck von Tod, Schmerz, Angst und Hoffnung entstanden, erinnern uns daran, wie traumatisch und lebensverändernd diese Kriegserfahrungen gewesen sein müssen.

Ausschlaggebend wurde die Entscheidung, entweder die persönliche künstlerische Verweigerung des politischen Denkens beizubehalten oder die Politik als integralen Bestandteil zu akzeptieren, um die zeitgenössische und zukünftige Relevanz der Musik zu sichern. Ein prominentes Beispiel ist die Beziehung Hanns Eislers zu seinem verehrten Lehrer Arnold Schönberg. Obwohl beide die musikalischen Fähigkeiten des anderen respektierten, konnten sie sich nie darüber verständigen, wie der Konflikt zwischen ästhetischer Autonomie und einer musikalisch-politischen Agenda zu überbrücken sei. Als sich Anfang der 1920er-Jahre im Begriff des „musikalischen Bolschewismus“ der Hass auf die Musikmoderne antisemitisch potenzierte, sah sich Schönberg als bevorzugtes Feindbild schließlich gezwungen, politisch zu handeln. Die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und öffentlicher Diffamierung machten aus ihm im amerikanischen Exil allerdings keinen politischen Aktivisten, sondern bewirkten seine Rückkehr zur Religion. Als György Ligeti, selbst ein politischer Flüchtling, 1978 einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Musik und Politik“ hielt, war es diese erzwungene Bemessung von Musik an ideologischen Maßstäben, die er zur Verteidigung der künstlerischen Autonomie ablehnte: „I think it’s completely irrelevant to speak about the political progressivity or reactionary position of New Music. It is not progressive in a political sense nor is it regressive, just as mathematics is neither progressive nor regressive. It is of a region which lies elsewhere.” [6]

Wir kennen viele Künstler, die – aus unterschiedlichen Gründen – mit autoritären Regimen kollaborierten oder sich zumindest zu arrangieren versuchten. An der Politik kommt man in einer Diktatur nicht vorbei, besonders wenn es gilt, eine künstlerische Karriere aufrechtzuerhalten oder die Sicherheit des eigenen Lebens und den Schutz von Familie und Freunden zu gewährleisten. Dennoch kann zwischen widerwilligen und willigen Unterstützern unterschieden werden. So singulär die Beispiele von Richard Strauss und Dmitri Schostakowitsch erscheinen mögen, so ähnlich ist die fortwährende Frage, wie mit den politischen Aspekten in ihren unter ideologischen Prämissen entstandenen Werken umzugehen ist. Wir können nur erahnen, wie irritierend und provokant es für jeden gewesen sein muss, der mit der Geschichte von Schostakowitschs „Leningrader Symphonie“ vertraut ist, als Waleri Gergijev sie 2008 bei einem „Konzert der Sieger“ im russisch besetzten Teil Georgiens dirigierte. Entstanden war diese Sinfonie 1941 als verzweifelter Versuch, Leningrads Widerstand gegen die Wehrmacht zu unterstützen. Mehr als siebzig Jahre später nun sollte das Werk als Schlachtenhymne dienen, um Wladimir Putins imperialistische Aggression zu feiern. Lassen Sie mich noch einmal auf Ligeti verweisen, als er einer solchen ideologischen Kontamination von kulturellem Erbe vehement widersprach: „It is equally true that music in itself does not oppress; neither is it democratic nor anti-democratic. To be sure, certain definite injustices are subject to political criticism in their relation to musical society. But please leave music itself out of it!“ [7]

„Musik war schon immer ein wirkungsvolles Werkzeug zur Verbreitung politischer Botschaften.“
Autor
Michael Custodis

Politik und Musik

Lassen Sie mich, bevor ich zum Schluss komme, noch einen Gedanken ergänzen. Offensichtlich war Musik schon immer ein wirkungsvolles Werkzeug zur Verbreitung politischer Botschaften. Dies wird deutlich, sobald wir den Blick von Werken, die der ästhetischen Autonomie verpflichtet sind, auf andere Musikarten, insbesondere auf populäre Musik und Texte erweitern. Hier könnte eine weitere Re-Lektüre der Musikgeschichte beginnen, soweit erhaltene Quellen uns in der Zeit zurückführen können. Beispielsweise ließen chinesische Kaiser der Hsia-Dynastie 2000 Jahre vor Christus ihre Beamten Lieder von Bauleuten und Handwerkern beim Bau der großen Mauer als rudimentäre Meinungsumfrage aufzeichnen, oder wie David King Dunaway es ausdrückt: „Ever since the blast of Joshua’s trumpets, political movements have turned to music in the service of their campaigns and causes.“ [8]

So einfach es mir schien, mich auf solide historische Fakten zu berufen, während ich versuchte, über „Musik“ und „Politik“ zu sprechen, so schwierig wird es, wenn wir versuchen, angemessene Maßstäbe für unsere eigene Zeit zu finden. Die fragile Geschichte der europäischen Demokratien hat uns gelehrt, unterschiedliche Meinungen zu respektieren, besonders wenn wir ihnen nicht zustimmen. Aber wie gehen wir mit Menschen um, die die Vorteile von Demokratie und Meinungsfreiheit missbrauchen, um die Fundamente gemeinsamer, demokratischer Werte zu untergraben oder sogar zu zerstören? Wie behandeln wir beispielsweise Künstler, die undemokratische Regime bei internationalen Wettbewerben vertreten? War es angemessen und gerecht, die russische Delegation vom European Song Contest auszuschließen, ähnlich wie Teams aus Russland bei Olympischen Spielen und Fußballwettbewerben boykottiert werden? Oder ist es ein Symptom einer neuen Cancel Culture, wie rechtskonservative Kritiker argwöhnen, die politische, ethnische und sexuelle Vielfalt als Zeichen von Schwäche und politischer Korrektheit diffamieren? Wie erhalten wir die diplomatische Qualität der Musik als Mittel, Menschen zusammenzubringen, die ansonsten nicht miteinander sprechen? Im Dezember 2008 folgte Lorin Maazel mit den New York Philharmonics einer Einladung des amerikanischen Erzfeindes Nordkorea und demonstrierte mit einer umjubelten Aufführung u. a. des Vorspiels zum dritten Akt aus Wagners „Lohengrin“, Dvoraks 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und Gershwins „An American in Paris“ die einzigartige diplomatische Wirkmächtigkeit von Musik.

War es aber ein Zeichen künstlerischer Qualität oder vor allem politischer Solidarität, dass ein ukrainisches Folk-Hip-Hop-Kollektiv am 14. Mai 2022 in Turin den Eurovision Song Contest gewann, als öffentliche Antwort der europäischen Publikumswähler auf den Aufruf von Oleh, den Sänger des Kalush-Orchesters „I ask all of you, help Ukraine“? Der Favorit der ESC-Jury war Sam Ryder, Repräsentant Großbritanniens, dem Mutterland von Pop und Brexit. Die Show zum großen Finale war zuvor mit einem politischen Statement eröffnet worden, als die größte Band der Welt, die „Rockin’ 1000“, auf der Piazza San Carlo John Lennons Hymne „Give Peace a Chance“ performte. Zu dieser Aufführung gesellte sich die singende Menge in der Halle und schwenkte zahlreiche Regenbogenfahnen. Wenn wir uns an die Fußball-Europameisterschaft im vergangenen Jahr erinnern, boten diese Symbole von Vielfalt und Toleranz genügend Potenzial für eine respektable Kontroverse zwischen Öffentlichkeit, Politik und UEFA-Funktionären, die sich gegen eine Beleuchtung deutscher Fußballstadien in Regenbogenfarben sperrten. Wo verliefen also auch hier die Grenzen zwischen Musik und Politik?

Nach dem Grundgesetz gilt in Deutschland nicht nur eine sehr weitreichende Kunstfreiheit, die – ich erinnere an den Skandal um antisemitische Kunstwerke bei der aktuellen Documenta 15 in Kassel – immer wieder bis zur Schmerzgrenze ausgereizt und juristisch überprüft wird. Auch darf nach unserem Grundgesetz niemand aufgrund seiner oder ihrer Herkunft diskriminiert werden. Ein pauschaler Boykott russischer Musik und von Musiker*innen aus Russland verbietet sich somit. Zudem muss sichergestellt werden, dass insbesondere auch die russische Opposition gegen Putin, die sich mit der Ukraine solidarisiert, gehört und von uns unterstützt wird. Anfang September hatte ich die Gelegenheit, in Münster das russische Kunstkollektiv Pussy Riot zu erleben. Wenn Sie mit der künstlerischen Arbeit von Pussy Riot vertraut sind, werden Sie mir sicherlich zustimmen, dass diese Fundamentalopposition gegen das Machtsystem Wladimir Putins und dessen Allianz mit dem russisch-orthodoxen Kirchenpatriarchat mehr als glaubwürdig und mit hohen persönlichen Risiken für das eigene Leben der Künstlerinnen und ihrer Familien verbunden ist.

Eine einfache, aber wesentliche Erkenntnis ist, dass die Schwierigkeit, in Zeiten politischer Krisen mit kontroversen musikalischen Themen umzugehen, kein neues Phänomen ist, sondern eine Konsequenz des allgemeinen demokratischen Diskurses. Als britische Truppen bereits seit Monaten in Nordfrankreich kämpften und deutsche U-Boote die britische Zivil- und Militärflotte angriffen, diskutierte das britische Parlament am 28. Juli 1915 darüber, wie es hingenommen werden könne, dass Sir Henry Wood eine ganze Konzertreihe mit deutscher Musik dirigierte. Sechsunddreißig Jahre später, am 3. Juli 1941, erlebte das britische Parlament eine ähnliche Debatte, diesmal über die Gewohnheit in vielen britischen Luftschutzkellern, deutsche Sendungen mit klassischer Musik zu hören, während Hitlers Bomben auf England fielen. Der britische Radioproduzent und konservative Politiker Leonard Plugge brachte den hitzigen Streit auf den Punkt: „I have with my own eyes seen people in England, waiting in a shelter, hearing the bombs fall, and listening to the German transmissions and saying, ‘Well, whatever one levels against the Germans, they are beautiful musicians. They do play beautiful things.’“ [9]

Ein Blick auf historische Widerstandsbewegungen zeigt, wie lange es dauert, kollektives Handeln zu initiieren und zu koordinieren. Darüber hinaus erweist es sich als mindestens so schwierig, den gemeinsamen Traum von Sieg und Befreiung über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Noch problematischer allerdings sind die Vorbereitungen zur Rückkehr in die Normalität: Welche Mittel sollen ergriffen werden, um eine Kriegsgemeinschaft in eine friedliche Gesellschaftsordnung zu überführen? Was soll nach Jahren der Unterdrückung, Entbehrung und Beharrlichkeit geschehen, wenn das Ziel erreicht ist und sowohl die eigene Freiheit als auch die Unabhängigkeit des eigenen Landes wiedererlangt wurden? Die Vorbereitungen auf diesen Moment konzentrieren sich in erster Linie auf politische Angelegenheiten und sind häufig weit vom Alltag und den Problemen von Künstler*innen entfernt. Die meisten öffentlichkeitswirksamen Debatten beziehen sich nicht auf Musik. Und doch ist Musik eng mit einer Erinnerungskultur und der Reflexion traumatischer Erfahrungen verbunden, um zu einem späteren Zeitpunkt auch der Versöhnung verfeindeter Menschen einen friedlichen Ort zumindest anbieten zu können.

Was ist aber mit unserer eigenen Wahrnehmung von Musik? Hat der aktuelle Krieg gegen die Ukraine unsere eigene Einstellung zum Verhältnis von Musik und Demokratie verändert – und wenn ja, wie? Zu Beginn der IAMIC-Tagung, zu der ich diesen Vortrag beisteuern durfte, besuchten wir am 21. Mai 2022 gemeinsam ein Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie und hörten Andris Nelsons am Pult der Münchner Philharmoniker. Das Programm war Richard Strauss gewidmet und neben dem Sinfonischen Zwischenspiel aus seiner Oper „Intermezzo“ (uraufgeführt 1924) sowie seinen sinfonischen Dichtungen „Till Eulenspiegel“ (1895) und „Tod und Verklärung“ (1889) erklangen auch seine berühmten „Vier letzten Lieder“ mit Rachel Willis-Sørensens als Solistin. Diese Lieder wurden 1948 komponiert und zwei Jahre später am 22. Mai 1950 in Londons berühmter Royal Albert Hall uraufgeführt, mit Wilhelm Furtwängler am Pult des Philharmonia Orchestra und Kirsten Flagstad in der Solopartie.

Solange wir uns darauf einigen können, die Musik von Richard Strauss wertzuschätzen, wird es keinen Zweifel geben, dass diese Lieder zu Recht als Teil seines künstlerischen Vermächtnisses gelten, ebenso wie seine Metamorphosen, die er in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs beendete. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob und wie diese Musik die skeptische Haltung des 81-jährigen Komponisten zur damaligen Gegenwart und seine düstere Sicht auf die deutsche Geschichte reflektiert. Alle Protagonisten hatten zum Zeitpunkt der Uraufführung harsche öffentliche Kritik wegen ihrer NS-Verstrickung erlebt und es wird bis heute darüber gestritten, wie sehr die Bereitschaft von Strauss und Furtwängler, sich mit der Propaganda von Joseph Goebbels einzulassen, ihre künstlerische Integrität kompromittierte. In diese kritische Betrachtung wäre die norwegische Sopranistin Kirsten Flagstad dringend hinzuzunehmen. Ihr Beispiel berührt das heikle Thema der Zusammenarbeit mit dem Regime des norwegischen Nationalsozialisten Vidkun Quisling: 1941, ein Jahr nach dem deutschen Überfall auf Norwegen, unterbrach die weltberühmte Sängerin ihr Engagement an der New Yorker Metropolitan Opera, um zu ihrem Mann Henry Johansen nach Norwegen zurückzukehren. Dieser hatte maximalen Profit aus seiner Mitgliedschaft in der norwegischen Nazi-Partei Nasjonal Samling geschlagen und ein Vermögen mit dem Verkauf von Holz an die deutschen Besatzungstruppen gemacht. Unmittelbar nach der Befreiung wurde er inhaftiert, starb jedoch 1946, bevor sein Prozess wegen Hochverrats abgeschlossen war. Flagstads Rolle war bereits vor Mai 1945 Gegenstand einer internationalen Kontroverse gewesen. Während Politiker und Künstler in Norwegen und im Exil ihr Verrat und Kollaboration mit den Deutschen vorwarfen, verbreiteten ihre Unterstützer die bis heute nicht belegte Legende ihrer Unterstützung der norwegischen Widerstandsbewegung. Relativ rasch wurde dieser Streit von der Realität überholt, als Flagstad 1949 ihre Verbindung zur New York Metropolitan erfolgreich wiederbelebte. Der Fall Furtwängler lag ähnlich, nachdem er nach drei Entnazifizierungsprozessen bereits 1947 seine internationale Karriere fortsetzen konnte.

Um auf meine anfänglichen Fragen zurückzukommen, ob es politische Argumente gibt, die die Selbstbestimmung der Musik außer Kraft setzen können und wo gegebenenfalls angemessene Verhaltenskodizes zu finden sind, möchte ich zum Schluss uns allen eine persönliche Frage stellen: Wie weit würden wir gehen, um unsere Liebe zur Musik gegen Alltäglichkeiten abzuschirmen, und sind wir bereit, unsere Meinung zu ändern, wenn die große Politik ins Spiel kommt?

Die ursprüngliche Fassung dieses Textes entstand als englischsprachiger Vortrag von Professor Michael Custodis für den „Pre-Conference Day“ der Jahrestagung der International Association of Music Information Centres (IAMIC) am 21. Mai 2022 an der Hochschule für Musik und Tanz Hamburg. Als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine verändern sich einige Kontexte und Debatten fortlaufend, so dass einige Passagen des Textes überarbeitet und aktualisiert wurden. Die vorliegende deutschsprachige Fassung entspricht dem Stand der Ereignisse von Mitte September 2022. Der Natur eines Vortragsmanuskripts entsprechend wurden nur direkte Zitate und Bezugnahmen auf konkrete Beispiele mit Literaturangaben versehen. Sämtliche in dem Vortrag geäußerte Standpunkte entsprechen ausschließlich denen des Autors.

Fußnoten

  1. Zitiert nach dem Artikel der Deutschen Welle Die umstrittene Operndiva: Anna Netrebkos Comeback, 31. August 2022. Online unter: https://www.dw.com/de/die-umstrittene-operndiva-anna-netrebkos-comeback/a-62965760 (Zugriff: 13. September 2022).
  2. Vgl. für den übergeordneten Kontext der Debatte Ian Parsons, Dissonant Terror. Stockhausen’s Lucifer and the Art of 9/11, in: Journal of Musicological Research 39/2020, Nr. 1, S. 1-23. Online unter: https://doi.org/10.1080/01411896.2020.1714442 sowie Michael Custodis: Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945, Stuttgart 2004, S. 196-202.
  3. Vgl. als aktuellsten Überblicksbeitrag zu dieser jahrzehntealten Debatte Furtwänglers Sendung. Essays zum Ethos des deutschen Kapellmeisters, hrsg. v. Albrecht Riethmüller und Gregor Herzfeld, Stuttgart 2020.
  4. Vgl. hierzu von Michael Custodis: Music and Resistance. Cultural Defense During the German Occupation of Norway, 1940-45, Münster 2021 [= Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 6], S. 202-209. Online unter: https://musicandresistance.net/publications/music-and-resistance.
  5. Anastasios Giannarás, Das Wachthaus im Bezirk der Musen. Zum Verhältnis von Musik und Politik bei Platon, in: Archiv für Musikwissenschaft 32/1975, Nr. 3, S. 165-183.
  6. György Ligeti, On Music and Politics, in: Perspectives of New Music, 16/1978, Nr. 2, S. 19-24.
  7. Ebd.
  8. David King Dunaway, Music and Politics in the United States, in: Folk Music Journal 5/1987, Nr. 3, S. 268-294.
  9. Vgl. die Aufzeichnung der Debatte im Parlament des Vereinigten Königreichs am 3. Juli 1941. Online unter: https://hansard.parliament.uk/Commons/1941-07-03/debates/759fa6c9-8dcc-47a3-bc6d-77c7d32d464d/Supply?highlight=music#contribution-f90a7b09-7c56-424d-bdda-505c70197be4 (Zugriff: 30. Mai 2022).

Über den Autor

Michael Custodis ist Professor für Musik der Gegenwart und Systematische Musikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Foto: Portrait Michael Custodis