Eine junge Dirigentin beim Projekt Kritisches Orchester 2019.
Projekt Kritisches Orchester 2019  
Foto:  Simon Pauly
Beim Kritischen Orchester® werden Geführte zu Mentoren: Einmal jährlich arbeiten Mitglieder professioneller Klangkörper ehrenamtlich mit Nachwuchsdirigent*innen zusammen. Mit ihrem Engagement schließen sie eine Lücke zwischen Ausbildung und Orchesteralltag.

Herbert von Karajan nannte die Laufbahn eines Dirigenten eine „20-jährige Ausbildung vor Publikum“. Tatsächlich scheint die höchste Position im Orchesterbetrieb eine der widersprüchlichsten ihrer Art zu sein: Auf der einen Seite braucht der Dirigent eine Gruppe von Musiker*innen, um künstlerisch arbeiten zu können. Auf der anderen Seite ist es der einsamste Job der Welt: Ein Dirigent muss nicht nur über umfangreiche Repertoire-Kenntnisse und individuelle Klangvorstellungen verfügen; zum Berufsbild gehören ebenso viele Reisen, ständige Ortswechsel, mitreißende Kommunikationsarbeit – und immer wieder Kritik. Denn im Scheinwerferlicht des Podestes gibt es kein Verstecken; jede Bewegung, jede Äußerung, jeder Augenkontakt entscheidet über Führungserfolg, Anerkennung und die nächste Verpflichtung. Doch wie all dies erlernen? „Der direkte Kontakt mit hervorragenden Musikern ist etwas, wovon die meisten jungen Talente nur träumen können“, sagt die Dirigentin Simone Young, die als Mentorin das Projekt begleitet. „Es ist ein Privileg und eine große Chance, in wenigen Tagen sehr weit in der eigenen Entwicklung kommen zu können. Genau das zeichnet die Werkstatt des Kritischen Orchesters aus.“

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Klarinettist gibt Handzeichen beim Projekt Kritisches Orchester 2019.
Das Projekt Kritisches Orchester 2019  
Foto:  Simon Pauly

Einmal im Jahr versammeln sich im Kritischen Orchester ehrenamtlich Mitglieder namhafter Klangkörper – darunter Konzertmeister, Stimmführerinnen und Solobläser aus Berliner und anderen deutschen Orchestern – um jungen Nachwuchsdirigent*innen in einem dreitägigen Workshop eine einzigartige Unterrichtserfahrung zu ermöglichen. Lothar Strauß, erster Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, engagiert sich seit vielen Jahren: „Meines Erachtens schließt das Kritische Orchester in der Ausbildung der Dirigenten die gleiche Lücke wie die Kammermusik in der instrumentalen Ausbildung“, sagt er. Denn: „Es geht um Dialog. Die Kammermusik bringt Instrumentalisten zusammen, die vorher einzeln für sich an ihrem Instrument ausgebildet worden sind. Die Kammermusik schafft es, gemeinsam miteinander zu sprechen, einander zuzuhören und sich während des Spielens durch den Dialog weiterzuentwickeln. Beim Kritischen Orchester findet der Dialog zwischen Dirigenten und Musikern in beide Richtungen statt. Dies macht dieses Projekt so wertvoll.“

„Das Kritische Orchester ist kein Wettbewerb, es ist eine Begegnungsstätte im Sinne der Musik.“
Autor
Martin Spangenberg

Idee und Organisation

Initiiert wurde die interaktive Werkstatt von Klaus Harnisch, ehemaliger Projektleiter des Dirigentenforums beim Deutschen Musikrat. 2002 wurde das Kritische Orchester als Veranstaltung der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin von Christhard Gössling, Solo-Posaunist der Berliner Philharmoniker und ehemaliger Rektor der Hochschule, gegründet. Seit 2016 kooperiert das Dirigentenforum mit der Hochschule bei der Umsetzung und kümmert sich federführend um die Durchführung: internationale Ausschreibungen, Videovorauswahl, die Zusammenstellung des Orchesters und andere organisatorische Aufgaben. Auf Seiten der Hanns-Eisler-Musikhochschule bringt sich Martin Spangenberg ein. Der ehemalige Prorektor der Hochschule unterrichtet heute als Professor für Klarinette und Bläser-Kammermusik, als Instrumentalist steht er in regelmäßigen Kontakt mit Orchestern. „Die Situation ist im Kritischen Orchester auf den ersten Blick psychologisch total verkehrt. Dort steht eine Führungsperson auf einem Podest, die sagen soll, wo es langgeht – wird dafür aber offen von den ‚Geführten‘ und vor allen anderen kritisiert. Sich als Dirigentin oder Dirigent in diese Situation zu begeben und sie auszuhalten, sehe ich als ganz wichtigen, lehrreichen Punkt. Die Dirigierenden bekommen von uns ein konstruktives Feedback und sehen gleichzeitig auch, wie es ist, wenn man kritisiert wird. Alles, was wir tun, geschieht im Dienste der Musik.“

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Junger Dirigent beim Projekt Kritisches Orchester 2019.
Das Projekt Kritisches Orchester 2019  
Foto:  Simon Pauly

Durchführung

Die mehrtägigen Workshops laufen immer ähnlich ab: Die jungen Dirigentinnen und Dirigenten begegnen zunächst ihrem Mentor, der sie nicht unterrichtet, sie aber auf die Stücke vorbereitet und ihnen im Laufe der Tage immer wieder als Ansprechpartner zur Verfügung steht. In der Vergangenheit waren es zum Beispiel Lothar Zagrosek oder Simone Young, die dem Nachwuchs in dieser Funktion zur Seite standen. In der anschließenden ersten Runde haben alle jeweils zweimal für etwa 20 Minuten die Gelegenheit, das Orchester zu dirigieren. Wer sich in diesen Proben bewährt, erreicht die nächste Runde. Für diejenigen, die in der ersten Runde ausscheiden, gibt es ein ausführliches Feedback-Gespräch mit der Jury. „Diese Gespräche sind uns wichtig. Denn das Kritische Orchester ist kein Wettbewerb, es ist eine Begegnungsstätte im Sinne der Musik. Wir sehen den einzelnen Menschen, wo er ist und geben ihm Ratschläge, mit denen er etwas anfangen kann“, sagt Martin Spangenberg. Solche Ratschläge reichen von „Bringt mehr eigene Ideen ein“ oder „Versucht nicht, es jedem Recht zu machen“, bis hin zu ganz konkreten Empfehlungen zu Tempo, Schlagtechnik oder musikalischen Spannungsverläufen.

MIZ WISSEN

Kritisches Orchester®

Künstlerische Leitung
Prof. Lothar Strauß
Erster Konzertmeister der Staatskapelle Berlin

Dirigentisches Mentorat 2020
Simone Young

Projektmanagement
Forum Dirigieren, Deutscher Musikrat

Mehr erfahren
Projektwebsite beim "Forum Dirigieren"
Projektdokumentation 2002-2015

Alle anderen können in zwei weiteren Runden schrittweise wertvolle Probezeit mit dem Orchester nutzen. Die Entwicklung innerhalb der drei Tage zu sehen, ist für Spanngenberg immer wieder besonders reizvoll: „Am Beginn ist das Klima immer eher zurückhaltend: Es ist ein Abtasten. Aber von Runde zu Runde wächst die Vertrautheit, es gibt offene Nachfragen und ein ehrliches Feedback. Daher ist es wichtig, mehrtätig zusammenzuarbeiten, um das Besprochene zu verdauen und einmal darüber schlafen zu können.“ Der richtige Umgang mit Kritik ist ein wichtiger Punkt in diesen Tagen. Auf die Frage, wie es gelinge, Kritik konstruktiv zu äußern, sagt Lothar Strauß: „Es gelingt dann am besten, wenn man sich mit empathischen Enthusiasmus an das Gegenüber wendet.“

Wirkungen

Und was macht nun einen guten Dirigenten, eine gute Dirigentin aus? Es sei eine Vielzahl von Dingen; allein musikalisch „gut“ zu sein, reiche nicht aus. Spangenberg: „Ich habe vor zehn Jahren einmal eine Tournee mit einem inzwischen bekannten Dirigenten gemacht. Damals dachte ich, ja, er ist gut – aber ich wäre nicht darauf gekommen, ihn in die erste Liga zu stecken. Vor Kurzem war ich nochmal mit ihm auf Tournee und muss sagen: Von ihm ging ein Glanz aus, es war unglaublich stimulierend. Er ging sehr respektvoll mit dem Orchester um, war klar und kommunikationsstark; er konnte in Details arbeiten, hatte aber das Große im Blick. In solchen Momenten denkt man: Manche Schätze müssen eben erst gehoben werden. Es gibt nur wenige, die von Anfang an ihrer Karriere glänzen. Es liegt dann an uns Lehrenden, die Schale aufzukratzen, um das innere Leuchten nach außen zu bringen. So sehe ich meine Aufgabe. Und die lohnt – denn wer Empathie gibt, bekommt im Regelfall auch viel zurück.“ Empathie und Enthusiasmus für die Musik sind es, was beide – Martin Spangenberg und Lothar Strauß – sich für die Zukunft des Kritischen Orchesters wünschen. Strauß: „Dass es immer wieder enthusiastische Musiker gibt, die sich für dieses Projekt zur Verfügung stellen. Und ebenso, dass es genügend Dirigenten gibt, die sich diesem Projekt anvertrauen.“

Über die Autorin

Anke Steinbeck ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Musikrat. Sie war ebenfalls u. a. für das Bundesjugendorchester und das Jazzfest Bonn tätig. Ihre Dissertation "Jenseits vom Mythos Maestro – Dirigentinnen für das 21. Jahrhundert" erschien im Jahr 2010.
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