Premiere von Domenico Cimarosas L’italiana in Londra an der Oper Frankfurt 2021.
Premiere von Domenico Cimarosas L’italiana in Londra an der Oper Frankfurt 2021  
Foto:  Monika Rittershaus  /  Oper Frankfurt
Wie hat sich das Repertoire, das heute die Spielpläne der Musiktheater bestimmt, im Laufe der Operngeschichte gebildet? Der Musikhistoriker Anno Mungen blickt auf die Anfänge der Repertoirebildung zurück und zeigt, welche gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Spielplanentwicklung einwirken.

Keine Leistung der Kunst, ob in der Literatur, der bildenden Kunst, der Architektur, der Musik oder dem Theater, geschieht unabhängig von der sprachlichen, philosophischen und ästhetischen Auseinandersetzung mit dieser Kunst und darüber hinaus. Die sich um die Kunst rankende geistige Auseinandersetzung, zu der auch die Wissenschaft beiträgt, prägt die gesellschaftlichen, ökonomischen und ästhetischen Rahmenbedingungen für kulturelles Handeln. Implizite oder explizite wissenschaftliche Beiträge innerhalb dieser Diskurse formieren die Künste in den Gefügen von Kunstausübung und dem Forschen und Schreiben über Kunst seit jeher mit. Sowohl die Kunst selbst als auch die Beschäftigung mit ihr sind zudem an ihre je aktuelle Medialität geknüpft. Maßgeblich sind für die Oper die Aufführung, Formen der Darbietung in Video und Audio sowie die Texte der Oper (Libretto, Partitur, Klavierauszug).

Der Begriff Repertoire

Der französische Begriff répertoire bedeutet wörtlich Verzeichnis oder Register. Im Kontext des westlichen Kunsttheaters, zu dem die Oper gehört, ist das Sprechen über Repertoires nur innerhalb bestimmter kultureller Bezugsrahmen sinnvoll, aus denen sich entsprechende Listen an Werken, die einem Repertoire angehören, erst ergeben. Die Kontexte solcher Bezugsrahmen differieren historisch und/oder regional. So ist zwar die Gesamtheit an Opernwerken allgemein unter dem Begriff Repertoire subsumierbar. Opern bilden aber erst in bestimmten kulturellen Rahmengefügen – wie etwa der „westlichen Welt“, der „angelsächsischen Welt“, den deutschsprachigen Ländern oder einzelnen nationalen Theaterkulturen – über häufige Aufführungen quantifizierbare Repertoires. Ebenso kann ein solcher Bezugsrahmen aber auch die Institution eines Theaters selbst sein, wie es ganz ausdrücklich im deutschsprachigen Stadt- und Staats-Theatersystem mit dem sogenannten Repertoirebetrieb (im Unterschied zum Stagione- oder Ensuite-Betrieb) der Fall ist. Im Repertoire-Theater greift man an einem bestimmten Haus gegebenenfalls täglich wechselnd auf den (über Jahre oder sogar Jahrzehnte) entstandenen Vorrat an verfügbaren Inszenierungen von Werken zurück und fördert so ihren weiteren Verbleib im Haus.

Abgeleitet hiervon impliziert das Denken in Repertoires auch eine Unterscheidung nach Aufführungskulturen, die auf die serielle Anlage des westlich geprägten Theaters rekurriert. So ist die Rede von Repertoireaufführungen, die ein Alltägliches des Theaters jenseits von Premiere, Gala- oder Festaufführung, Aufführungen mit Gastsänger*innen oder Dernièren hervorkehren. Ein zentrales Kriterium für die Einschätzung von Repertoires sind quantitative Erhebungen, das heißt die Häufigkeit der medialen Präsenz eines Opernwerkes (in Aufführung, in Video, Audio oder anderen Formen). Hier wird Bedeutung daran gemessen, wie häufig einzelne Werke aufgeführt werden, was zum berühmten Bonmot der sogenannten „ABC-Waffen“ für intendierte hohe Auslastung am Opernhaus mit den Werken Aida, La bohème und Carmen geführt hat.

„Opernrepertoires können identifikatorischen Ansprüchen gerecht werden, die somit jenseits von rein ökonomischen Bedingungen mitbestimmen, was auf den Opernbühnen erscheint.“
Autor
Anno Mungen

Repertoirebildung und Wissenschaft

Das Verhältnis von Repertoirebildung und Wissenschaft ist komplex. Um dies beispielhaft zu erörtern, sei der Blick auf die Repertoirebildung im deutschsprachigen Kulturraum gelenkt. Historiografisch signifikant ist, dass sowohl das Fach der Musikwissenschaft als auch das Phänomen der Repertoirebildung in der Oper im deutschsprachigen Raum seit Ende des 18. Jahrhunderts ihren Beginn nehmen. Hierbei spielen die Medialität des Theaters sowie die Distributionswege von Musik eine entscheidende Rolle, die je mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Oper zusammenhängen. Erst die Herausgabe von Editionen der Partituren ermöglichte eine zunehmende Verbreitung von Musik und führte zu einer angemessenen Materialität für die Bildung von Repertoires in der Oper. Denn, dass Opern im größeren Rahmen verfügbar sind, hängt wesentlich an der gedruckten Partitur (einschließlich des Klavierauszugs), die das Scrittura-Prinzip und die handschriftliche Überlieferung von Oper in den Hintergrund drängte. Gleichzeitig erweiterte sich mit der Zunahme verfügbarer Partituren auch das Konvolut für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik, was der Entwicklung des Faches Musikwissenschaft zusätzlichen Auftrieb gab.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist auch in der hochentwickelten Presselandschaft als einem Medium wissenschaftlicher Reflexion eine zunehmende Verwendung des Begriffs Repertoires festzustellen, die darauf reagiert, was sich im Kontext einer bürgerlichen Bildungsauffassung zunehmend als Kanon etablierte. War die Oper historisch zunächst noch fast ausschließlich von dem geprägt, was man heute als Uraufführung bezeichnet – ein Begriff, der für das 17. und 18. Jahrhundert eigentlich einen Anachronismus darstellt, da Wiederaufführungen seinerzeit in aller Regel nicht der Logik des Systems folgten –, so etablierte sich im 19. Jahrhundert die Oper als tendenziell globale Kunstform, die lokale Repertoires unterschied.

Der Umstand, dass man über Oper ein identitätsstiftendes Vehikel des Nationalen zu entdecken beginnt, ist ein zentrales Moment von Repertoirebildung mit politischer Dimension. In Mitteleuropa wirkte vor allem die Funktionalisierung der so genannten deutschen Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der Suche nach nationaler Einheit prägend, weshalb ein Werk wie Webers Freischütz und später Wagners Opern zu Repertoirestücken werden konnten. An der Herausbildung und der Identifizierung solcher Repertoires beteiligte sich die Wissenschaft maßgeblich, wie an den kunstästhetischen Debatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zu sehen ist. Opernrepertoires können identifikatorischen Ansprüchen gerecht werden, die somit jenseits von rein ökonomischen Bedingungen mitbestimmen, was auf den Opernbühnen erscheint.

Aufführungsverbote im Nationalsozialismus

Wie sehr die Wissenschaft die Bildung von Repertoires mitbestimmt, lässt sich für den deutschsprachigen Kulturraum am Beispiel des 20. Jahrhunderts zeigen. Das Fach Musikwissenschaft hat sich nun vollständig als akademische Disziplin etabliert. Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus lässt sich das Fach aber gleichschalten. So sind Wissenschaftler*innen an der Neuausrichtung der Spielpläne um das Jahr 1933, die auf einem rasseideologisch begründeten Aufführungsverbot bestimmter Werke beruht, wesentlich beteiligt. Hierbei ist die vom Nationalsozialismus gegebene Begründung, nach der keine Stücke jüdischer Autoren gespielt werden durften, allerdings bei näherer Betrachtung weniger relevant als die hiermit implizierte politische Vorgabe, die den Ausschluss von vor allem liberal ausgerichteten Repertoires suchte bzw. von Werken, die sich einer nationalistischen Vereinnahmung entzogen. Dementsprechend wurden auch nicht-jüdische Komponisten nicht mehr aufgeführt, deren Musik sich den ästhetischen und/oder politischen Vorstellungen des Nationalsozialismus entzog und die daher mit dem Verdikt belegt wurden, „undeutsch“, wenn nicht „entartet“ zu sein – was beispielsweise in der Regel der atonalen Musik oder dem Jazz zugeschrieben wurde.

Die Rassenideologie des Nationalsozialismus beförderte eine Vielzahl von analogem musikwissenschaftlichen Schrifttum wie etwa das für Oper und Konzert vielfach benutzte Referenzwerk Lexikon der Juden in der Musik von 1940 (hrsg. von Herbert Gerigk und Theophil Stengel). Hiermit wurde die Basis geschaffen, einst sehr viel gespielte Werke der 1920er Jahre von zeitaktuellen Komponisten wie Ernst Krenek oder Kurt Weill zu verbannen. Ein Repertoirewerk wie Jonny spielt auf verschwand von den Bühnen der Opernhäuser von heute auf morgen ebenso wie die Dreigroschenoper von denjenigen der Schauspielhäuser.

Nicht nur zeitgenössische Werke verbannte die NS-Kulturpolitik von der Bühne, sondern auch historisches Repertoire. So ist im Opernbereich das Werk Giacomo Meyerbeers betroffen, das zwar schon mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hatte, seine überragende Stellung im Repertoire der Oper einzubüßen, nun aber (vorerst) ganz von den Spielplänen verbannt wurde.

Ausschnitt aus dem "Lexikon der Juden in der Musik": Obgleich Erich Wolfgang Korngold zu den meistgespielten Komponisten der Weimarer Zeit gehörten, behauptete das Lexikon, seine Werke seien über "rasch verflogene Sensationserfolge nicht hinausgekommen".
Foto:  Karin Stoverock
Ein Foto vom "Lexikon der Juden in der Musik". Das Werk wurde im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP zusammengestellt.
Das "Lexikon der Juden in der Musik" wurde im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP zusammengestellt  
Foto:  Karin Stoverock
Ausschnitt aus dem "Lexikon der Juden in der Musik": In Kurt Weills Bühnenwerken zeige sich, so Stengl/Gerigk, "ganz unverblümt und hemmungslos die jüdisch-anarchische Tendenz".
Foto:  Karin Stoverock
Ausschnitt aus dem "Lexikon der Juden in der Musik": Meyerbeers Opern sind nach Meinung von Stengel/Gerigk die Werke eines "skupellosen Geschäftsjuden", die eine "zerstörende Wirkung" hätten.
Foto:  Karin Stoverock
Ausschnitt aus dem "Lexikon der Juden in der Musik": An Franz Schreker kritisiert das Lexikon, dass er "die verschiedenartigsten Variationen sexueller Verirrungen zum Gegenstand seiner musikalischen Bühnenwerke" gemacht habe.
Foto:  Karin Stoverock

Rehabilitation und Wiederentdeckung von Komponisten

Mit dem politischen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Fachverständnis der Musikwissenschaft, und das Fach begann, aus einem politisch unabhängigen Wissenschaftsverständnis heraus zu agieren und – u. a. im Falle der Opern Meyerbeers wie auch des Repertoires des Weimarer Musiktheaters – rehabilitierend zu wirken. Dies traf (und trifft) sich mit der kulturpolitischen Forderung, aber auch dem künstlerischen Willen von Intendanten, nicht nur Uraufführungen, sondern auch Wiederaufführungen von älteren Werken zu initiieren, um damit die Gattung Oper, der durch ihre starke Repertoirebildung ein musealer Charakter eigen ist, zu aktualisieren.

Das Begründungsmuster für eine sogenannte historische Wiederentdeckung besteht darin, dass Werke mit großer Qualität zu Unrecht durch das Raster des Vergessens gefallen seien, wie im Fall des Nationalsozialismus durch gezielte politische Steuerung der Rezeption. Idealerweise wird die Wiederaufführung eines Stückes aufgrund entsprechender wissenschaftlicher Anregung von einem Haus aus getragen, dann nachgespielt und so möglicherweise Bestandteil eines erweiterten Repertoires. Das ist zum Beispiel der Fall bei Erich Wolfgang Korngolds einstiger Erfolgsoper Die tote Stadt, die heute wie auch die Werke von Franz Schreker wieder auf den Spielplänen zu finden ist. Grundlage für diese Art der Repertoireerweiterungen war die Initiative für die Wiederaufführung so genannter „Entarteter Musik“, die seit den 1980er Jahren von der Wissenschaft, von der Schallplattenindustrie und den Opernhäusern gemeinsam getragen wurde. Im Fall der zum Teil erfolgreichen Wiederentdeckung der Werke von Meyerbeer seit den 1970er Jahren spielt die Wissenschaft im Kontext der sehr aufwändigen Neueditionen der Partituren eine große Rolle.

Beim Thema Repertoirebildung muss es aber nicht nur um Machtbehauptung im Politischen gehen. Ebenso können Fragen von Ausschlussverfahren im Gesellschaftlichen allgemein eine Rolle spielen. Dies zeigt etwa die überaus zögerliche Aufnahme von Komponistinnen in die Opern-Repertoires trotz wissenschaftlicher Beschäftigung mit den entsprechenden Werken. Ist es im Falle der aktuellen Musik so, dass Komponistinnen hier stärker Fuß fassen können, wie das Werk Olga Neuwirths zeigt, verhält es sich im Historischen anders, wie am Beispiel von Ethel Smyth zu zeigen wäre – aber das wäre noch einmal eine eigene Untersuchung.

Über den Autor

Anno Mungen ist Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters sowie Leiter des Forschungsinstituts für Musiktheater an der Universität Bayreuth auf Schloss Thurnau.
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