Während der Aufführung von "Las Passione" ist das Orchester ganz in weiß gekleidet. Im Vordergrund ist ein großer goldener Ring aus Draht positioniert, der an eine Dornenkrone erinnert.
„La Passione“ inszenierte an der Staatsoper Hamburg  
Foto:  Bernd Uhlig  /  Staatsoper Hamburg
Viele Meisterwerke der Musikgeschichte entstanden für die Aufführung im kirchlichen Raum und wurden unmittelbar in die Gestaltung des Gottesdiensts einbezogen. Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Konzertkultur fanden kirchenmusikalische Werke Eingang in den Konzertsaal und sind heute fester Bestandteil auch des außerkirchlichen Repertoires. Zudem haben sich um sie herum zahlreiche Spezialfestivals etabliert, von denen neue Impulse für die Darbietung geistlicher Musik ausgehen.

Der Terminus geistliche Musik wird oft synonym verwendet mit den verwandten, teilweise aber nicht völlig deckungsgleichen Begriffen gottesdienstliche bzw. liturgische Musik, Kirchenmusik, religiöse Musik, Sakralmusik (musica sacra) und spirituelle Musik. Es ist fast unmöglich, hier eine Begriffsklärung herbeizuführen. Denn die Begriffsunschärfe ergibt sich aus der Sache selbst: So wie sich das religiöse und kirchliche Leben in Deutschland unentwegt verändert – die Kirchen verlieren Mitglieder, religiöse Sinnangebote jeglicher Couleur aber werden zahlreicher – so verändert sich auch das Verständnis dessen, was allgemein als „geistlich“ und als „geistliche Musik" angesehen wird.

Im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch dient „geistliche Musik" einerseits als Gegenbegriff zur „weltlichen Musik“ und wird als Synonym für „religiöse Musik“ verwendet. Der Terminus bezeichnet in diesem Sinne jede Musik, die einen religiösen Inhalt besitzt oder für religiöse Zwecke geschaffen wurde. Andererseits meint, wer von geistlicher Musik spricht, in der Regel und im engeren Sinne eine auf der Grundlage christlicher Themen und Texte komponierte, für die christlichen Kirchen entstandene und in den christlichen Kirchen verwendete Musik. Dementsprechend wird der Begriff häufig auch als Synonym für den Begriff „Kirchenmusik“ genutzt. Dieser wiederum ist auch im kirchlichen Zusammenhang durchaus mehrdeutig. Er umfasst die liturgische Musik ebenso wie die außerhalb der Liturgie im Kirchenraum aufgeführte, für die Kirche komponierte Musik. Von besonderer Bedeutung ist schließlich der in der katholischen Kirche gebräuchliche lateinische Begriff der „musica sacra“, der unzulänglich meist mit „Kirchenmusik“ übersetzt wird, obwohl die Wendung „heilige Musik“ nahelegt, dass diese Musik von einer Qualität ist, die über menschengemachte musikalische Strukturen hinausgeht. Die Vorstellung von der Unantastbarkeit der gregorianischen Melodien oder die Idee einer Vereinigung von Menschen- und Engelsgesang, von himmlischer und irdischer Liturgie im Sanctus der Messe gehören zu diesem Konzept „geistlicher Musik“.

Je näher man sich jedoch mit der Realität der geistlichen Musik innerhalb und außerhalb der Kirchen befasst, umso mehr verschwimmt die Vorstellung davon, wofür man ihn nicht verwenden kann. Denn wo vor vielleicht einem halben Jahrhundert noch Klarheit herrschte, was „geistliche Musik“ ist – die Behandlung christlicher Stoffe und Texte durch Musik – existiert heute eine verwirrende Vielfalt dessen, was man „musikalisch-spirituelle Sinnangebote“ nennen könnte. Neben die traditionelle, auch im Konzert praktizierte Kirchenmusik und die hergebrachten oratorischen Angebote in den Konzertsälen tritt sowohl in den Kirchen wie außerhalb von ihnen ein breites Angebot von Konzerten, in denen sich christliche, jüdische, islamische und sogar buddhistische Klänge, Motive, Musiken mischen. Auch wird gelegentlich Musik, die ursprünglich keinerlei geistlichen Hintergrund hatte, durch einen geeigneten Raum und stimmungsvolle Illuminationen im Nachhinein „spiritualisiert“. Praktikabel ist der Begriff „geistliche Musik im Konzert“ deshalb nur dann, wenn er weit gefasst wird und außer der Kirchenmusik auch vielfältige Formen religiöser und allgemein-spiritueller Musik umfasst. In diesem Sinn wird deshalb im Folgenden das Phänomen „geistlicher Musik im Konzert“ schlaglichthaft erhellt, und zwar so, dass die Formen geistlicher Musik in Deutschland von den hergebrachten Angeboten der Kirchen über die traditionelle Oratorienkultur im Konzertsaal bis hin zu theatralischen, experimentellen, multimedialen, interreligiösen oder vage spirituellen Präsentationsformen, die vorwiegend in Festivals zu finden sind, beschrieben werden.

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Blick auf den Chor einer vollbesetzten Kirche, in dem ein Orchester spielt.
Die Konzertaktivitäten der Kirchen bilden eine wesentliche Säule des Musiklebens in Deutschland.  
Foto:  Jörg Hejkal  /  Jörg Hejkal

Kirchen- und Orgelkonzerte

Wer sich mit geistlicher Musik im Konzert in Deutschland befasst, wird naturgemäß zunächst das Musikleben in den Kirchen in den Blick nehmen. Die Kirchenmusik ist nach wie vor, gerade in kleineren Städten, eine wesentliche Säule des Musiklebens. Dies hat vor allem mit den vielfältigen Aktivitäten auf dem Gebiet des Amateurmusizierens zu tun: Mit einer großen Anzahl an Kinder- und Jugendchören, Instrumentalgruppen und leistungsfähigen Kantoreien ist die Kirchenmusik immer noch ein Breitenphänomen. Breit ist auch das stilistische Spektrum, das diese Gruppierungen abdecken. Es reicht vom Gregorianischen Choral über Bachkantaten und romantische Chorsätze bis hin zu Jazz, Gospel und Pop. Eine Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland listet für das Jahr 2017 – nur für ihren Wirkungsbereich – rund 87.590 kirchenmusikalische Veranstaltungen mit etwa 7,7 Millionen Besuchern. [1] Die Kirchen gehören ohne Zweifel zu den wichtigsten Konzertveranstaltern in Deutschland. Mit ihrer Konzerttätigkeit bauen die Kantorinnen und Kantoren und ihre Ensembles zudem eine wertvolle Brücke zum religiösen Leben: Für manche Menschen mag der Besuch von Konzerten in Kirchen der erste Schritt hin zu einem kirchlichen Engagement sein.

Kaum aufzuzählen sind die Orgelzyklen, Orgelwochen, Orgelnächte in deutschen Städten und Landschaften. Sie können breit aufgestellt sein wie das Internationale Düsseldorfer Orgelfestival, sich einem speziellen Aspekt der Orgelkunst widmen wie das Internationale Orgelimprovisationsfestival Berlin, bestimmte Instrumente in den Vordergrund stellen wie die Silbermann-Tage Freiberg oder sich einem bestimmten Repertoire verschreiben wie die orgel-mixturen Köln an der dortigen Kunst-Station Sankt Peter, die sich ausschließlich der Neuen Musik widmen. Sie dienen der Zurschaustellung einer ganzen Orgellandschaft, des Orgelreichtums einer bestimmten Stadt oder der Präsentation eines einzelnen Instruments. Solche Orgelreihen gehören zum scheinbar unveräußerlichen Traditionsbestand geistlicher Musik im Konzert. Als innovativ können sie in der Regel nicht gelten, beziehen aber frische Energie aus dem immer noch anhaltenden Wachstum einer Orgelszene in Deutschland, die nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und der Beseitigung vieler teils minderwertiger Instrumente aus der unmittelbaren Nachkriegszeit inzwischen aufgrund zahlreicher hochwertiger Orgelneubauten und grundlegender Restaurierungsarbeiten einen wohl nie dagewesenen Reichtum besitzt (vergleiche auch den Beitrag von Matthias Schneider „Zwischen Liturgie und Konzertsaal – Die Orgel“).

Geistliche Musik im Konzertsaal und auf der Bühne

Traditionsreich sind auch die Oratorienkonzerte in den Konzertsälen – eine ehrwürdige Institution, seitdem Händel das Oratorium als geistliche Unterhaltung für das bürgerliche Publikum populär machte. Oratorienkonzerte sind etwas Besonderes: Anders als etwa bei Sinfoniekonzerten machen sich bei der Oratorienkultur regionale und konfessionelle Unterschiede deutlich bemerkbar. Ein herausragendes Beispiel ist Stuttgart, dessen pietistische Prägung zur Ausbildung einer quantitativ wie qualitativ einzigartigen Chorszene geführt hat. Mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart sowie der Gaechinger Cantorey (den Ensembles der Internationalen Bachakademie) stehen dem Publikum der Stadt hochprofessionelle Klangkörper zur Verfügung, die regelmäßig Oratorienkonzerte anbieten. Die Professionalität der aus bezahlten Berufsmusiker*innen bestehenden Ensembles sei deswegen an dieser Stelle besonders erwähnt, weil gerade im Oratorienbereich Berufssänger eher die Ausnahme darstellen. Die Oratorienszene wird in der Regel von ambitionierten Amateurchören getragen, die sich für ihre Aufführungen professionelle Orchester „leisten“. Als Beispiel mag das Netzwerk Kölner Chöre dienen, das in der Kölner Philharmonie gemeinsam eine sechsteilige Oratorienreihe anbietet, wobei jeder Chor des Netzwerks ein Konzert übernimmt. Es handelt sich in der Regel um Amateurchöre. Die Kölner stehen damit ganz in der Tradition der Gattung, zu deren zentralen Merkmalen das Gemeinschaftserlebnis und die Freude am Singen gehören. Dies mag auch der Grund sein, warum Oratorienkonzerte seit etwa 200 Jahren – sieht man von aufführungspraktischen Veränderungen ab – in nahezu unveränderter Form funktionieren. Ihr Beitrag zur geistlichen Musik im Konzert unterscheidet sich damit wesentlich von den Festivals, deren Programmatik und formale Ausprägung beständig im Fluss ist.

Inszenierung der Matthäus-Passion am Hamburg Ballett. Zwölf weiß gekleideten Tänzer auf der schwarzen Bühne halten sich an den Händen und bilden einen weiten Kreis.
Inszenierung der Matthäus-Passion am Hamburg Ballett  
Foto:  Kiran West
Inszenierung der Matthäus-Passion am Hamburg Ballett.
Inszenierung der Matthäus-Passion am Hamburg Ballett  
Foto:  Kiran West
Bei der Inszenierung von Bachs Matthäus-Passion unter dem titel "La Passion", 2016 inszeniert von Romeo Castellucci an der Staatsoper Hamburg, sind alle Beteiligten auf der Bühne ganz in weiß gekleidet. Ein kahler Baumstamm ragt über die Bühne, im Hintergund ist die Zeile "Oh Mensch, bewein dein Sünde groß" zu lesen.
„La Passione“ an der Staatsoper Hamburg  
Foto:  Bernd Uhlig  /  Staatsoper Hamburg
Bei der Inszenierung von "La Passione" an der Staatsoper Hamburg sind alle Beteiligten auf der Bühne ganz in weiß gekleidet. Im Vordergrund ist ein Schädel positioniert.
"La Passione" an der Staatsoper Hamburg  
Foto:  Bernd Uhlig  /  Staatsoper Hamburg
Aufführung der Matthäus-Passion in der Berliner Philharmonie, inszeniert von Peter Sellars. Links liegen schwarz gekleidete Gestalten in mehreren Reihen auf der Bühne. Rechts sind Musikerinnen und Musiker der Berliner Philharmoniker zu erkennen, ebenfalls schwarz gekleidet.
Aufführung der Matthäus-Passion in der Berliner Philharmonie, inszeniert von Peter Sellars  
Foto:  Monika Rittershaus
Aufführung der Matthäus-Passion in der Berliner Philharmonie, inszeniert von Peter Sellars. Die Mitwirkenden sind alle in schwarz gekleidet und sitzen über die ganze Bühne verteilt auf dem Boden. im Hintergrund sind Musikerinnen und Musiker der Berliner Philharmoniker zu erkennen, ebenfalls in schwarz gekleidet.
Matthäus-Passion in der Berliner Philharmonie, inszeniert von Peter Sellars  
Foto:  Monika Rittershaus

Allerdings hat das Oratorium – insbesondere die Oratorien Händels und die Passionen Bachs – in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Schritt auf die Theaterbühnen unternommen. Der Sache nach liegt dieser Schritt ja gar nicht fern, denn die oft dramatische Erzählstruktur der Oratorien ist der Oper verwandt. Eher schon mag dieser Schritt in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht beachtenswert sein, denn er kann den Blickwinkel auf das Werk verändern: Weniger die zur Andacht einladende religiöse Botschaft als die Neugier auf den dramatischen Fortgang der Handlung kommt auf der Theaterbühne zu ihrem Recht. Oder ist es gerade die Abhandlung elementarer moralischer Themen, die die Oratorien für Regisseure heute interessant macht? Jedenfalls finden Händels geistliche Sujets mit einiger Regelmäßigkeit Eingang ins deutsche Theater: Jürgen Flimm inszenierte Händels frühes Oratorium „Il trionfo del tempo“ 2012 in Berlin, Händels „Jephta“ kam 2013 bei der Winteroper Potsdam auf die Bühne, 2015 „Saul“ an der Oper Dortmund, 2016 „Israel in Eqypt“ wiederum an der Winteroper Potsdam.

Etwas anders ist der Fall der Bachʼschen Passionen gelagert: Neben Bühneninszenierungen (die Matthäus-Passion 2016 von Peter Sellars in der Berliner Philharmonie und von Romeo Castellucci in den Hamburger Deichtorhallen sowie 2020 von Johanna Wehners am Hessischen Staatstheater Wiesbaden) treten zahlreiche Choreografien: John Neumeier und sein Hamburger Ballett machten bereits 1980 den vielbeachteten Anfang mit der Matthäus-Passion (eine bis heute immer wieder aufgenommene Choreographie). Martin Hagel brachte dasselbe Werk 2013 mit Street Dancern in den Berliner Dom, 2014 vertanzte Laurent Chétouane unter dem Titel „Bach / Passion / Johannes“ die Johannes-Passion; mehrere Education-Projekte wie etwa „Bachbewegt“ der Stuttgarter Bachakademie nähern sich den Oratorien Bachs tänzerisch. Offenbar ist es das Rituelle des Tanzes, das mit der archaischen Wucht des Passionsgeschehens eine künstlerisch fruchtbare Verbindung eingehen kann.

Festivals

Geistliche Musik im Konzert ist ein kulturelles Phänomen, das von den Entwicklungen und Tendenzen im Konzertbetrieb Deutschlands nicht zu trennen ist. Hier ist die enorme Zunahme des Konzertangebots (und damit einhergehend des Publikums) über die letzten Jahrzehnte zu nennen. An diesem Gesamtbild haben insbesondere die Festivals großen Anteil, deren rasch zunehmende Zahl auch als Ausdruck des Bemühens gelten kann, in einem stark verdichteten, kompetitiven Umfeld Aufmerksamkeit durch Bündelung zu erzielen. Festivals sind aber auch Veranstaltungen, bei denen die „Rahmung“, also die Einbettung des Konzertgeschehens in einen stimmungsvollen Ort (Kirchen zum Beispiel) und/oder ein gesellschaftliches Ereignis eine größere Rolle spielt als im Abonnement-Betrieb der Konzerthäuser, deren Programmplanung sich freilich – etwa durch die Schaffung von Themeninseln – mehr und mehr an Festivalstrukturen orientiert. Auch der touristische Aspekt, insbesondere die Erschließung historischer oder architektonisch bedeutsamer Bauwerke (auch hier wieder das Beispiel Kirchen), besitzt für Festivals eine weit größere Bedeutung. Zudem gehört die „Formatentwicklung“, also die Erfindung konzertanter Ereignisse, bei denen Raum, Musik und Publikum in ein anderes als das gewohnte Verhältnis treten, zum Markenkern nicht weniger Festivals. Festivals sind schließlich Orte, an denen die alte Verbindung von Kult und Kultur durch die zeitliche Begrenzung, den besonderen Festcharakter und die Herausbildung einer „Festivalgemeinde“ stärker erlebbar wird als im regulären Konzertbetrieb, der eine gleichmäßige kulturelle Versorgung über das Jahr sicherstellt.

In der Summe bedeutet dies: Festivals sind eine Erscheinungsform des Konzertlebens, bei der der Kirchenraum fast von selbst in den Fokus der Programmplanung rückt. In unterschiedlicher Stärke und Ausprägung bieten sie zudem Gelegenheit, neue Präsentationsformen auszuprobieren und Programme inhaltlich wie formal weiterzuentwickeln. Welche Auswirkungen dies für die geistliche Musik im Konzert hat (und auf die Definition dessen, was „geistliche Musik“ überhaupt ist!) wird im Folgenden gezeigt.

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Neue Programmformate mit Einsatz von pinken Schnüren und Kabeln in einer Kirche für die "Internationale Orgelwoche Nürnberg – Musica Sacra".
Neue Programmformate für die „Internationale Orgelwoche Nürnberg – Musica Sacra“  
Foto:  Nina Kuhn  /  Internationale Orgelwoche Nürnberg

Festivals für Alte Musik

Auf der Grenze von kirchlichem und nicht-kirchlichem Konzertleben bewegen sich Festivals für Alte Musik. Die nachhaltige Etablierung der historisch-informierten Aufführungspraxis ist, neben der Entwicklung einer nahezu unübersehbaren Festivalszene, wohl diejenige Entwicklung, die für die geistliche Musik im Konzert am bedeutendsten ist. So sehr ist eine an den Erkenntnissen aufführungspraktischer Forschungen orientierte Spielweise selbstverständlich geworden, dass das gesamte Repertoire geistlicher Musik vor Mozart in einer anderen Spielweise kaum noch denkbar ist.

Logische Folge dieser Entwicklung ist die Spezialisierung der Musikerinnen und Musiker und der Festivalprofile insbesondere auf dem Gebiet der Alten Musik. „Tage Alter Musik“ gibt es unter anderem im Saarland, in Bamberg, Regensburg, Würzburg, Nürnberg (Musica Franconia) und Herne. In Stuttgart ist es das Festival STUTTGART Barock, in Köln das Kölner Fest für Alte Musik, das sich der historisch-informierten Aufführungspraxis verschrieben hat. Musik vor Mozart aber bedeutet in der Regel: Musik für den Hof oder für die Kirche. Festivals für Alte Musik sind deshalb fast immer auch Festivals für geistliche Musik im Konzert. Nahezu alle Festivals für Alte Musik programmieren Musik, die für die Kirche geschrieben wurde; und im Sinne größtmöglicher Authentizität wird dieses Repertoire im Rahmen jener Festivals regelmäßig in Kirchen zur Aufführung gebracht. Damit wohnt ihnen einerseits ein bewahrendes, gelegentlich sogar museales Element inne. Aber zugleich – über die „Links“ des historischen Instrumentariums und der (je nach Alter des Repertoires unterschiedlichen) Archaik der Tonsprache – knüpfen diese Festivals auch an eher „Zeitgeistiges“ an: an verschiedene Formen von Weltmusik etwa oder die Musik nichtchristlicher Religionen.

Einen sehr deutschen Sonderfall der Festivals für Alte Musik stellen die mehr als ein Dutzend Bachwochen und Bachfeste dar, etwa in Ansbach, Greifswald, Stuttgart, Thüringen, Lüneburg, Heidelberg, Hamburg, Aachen und Leipzig. Ihre zugleich kirchennahe und gelegentlich noch kunstreligiöse Prägung sowie ihre bewahrende Grundhaltung („Bachpflege“ ist das sonderbare Stichwort, das man hie und da noch hört) sind offensichtlich. Mancherorts, in Köthen und Leipzig etwa, erprobt man Konzertformate jenseits der Aufführungstradition, aber im Großen und Ganzen gehören Bachwochen eher nicht zur experimentellen Festival-Avantgarde.

„Das Konzertleben spiegelt die Wirklichkeit religiösen Lebens in Deutschland, das sich durch eine abnehmende Kirchenbindung und eine Zunahme spiritueller Angebote auszeichnet.“
Autor
Michael Gassmann

Festivals mit geistlicher bzw. spiritueller Musik

Die bedeutenden Festivals geistlicher Musik werden, anders als ihr Name vermuten ließe, nicht von der evangelischen oder katholischen Kirche getragen, sondern von Vereinen oder den Städten, in denen sie stattfinden. Einige wichtige Beispiele mögen aktuelle Tendenzen bei der Profilierung dieser Festivals verdeutlichen:

Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
Ein Streichquartett spielt in einer byzantinischen Kirche.
Das Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch-Gmünd umfasst alle Kulturen.  
Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd
Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd

Das Programm des traditionsreichen, dreiwöchigen Festivals Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd gibt einen ersten Hinweis darauf, in welche Richtung sich Festivals geistlicher Musik entwickeln. Die Ausgabe 2019 stand unter dem Motto „Alles im Fluss“ und bot neben Konzerten mit Werken wie Mendelssohns „Elias“ und Bach-Kantaten auch Vocal Jazz kombiniert mit geistlicher Musik aus Georgien, einen Workshop für Obertongesang und ein „Musikforum“ zum Klang des Wassers, Live-Musik zum Film „Homo sapiens“ über die Zukunft der Menschheit und etliches mehr. Der Begriff Kirchenmusik wird hier also weit gedehnt und umfasst nicht nur Ausflüge in die gesellschaftlich engagierte und eher populäre Musik; bemerkenswert ist auch die Ausweitung der Programmatik in Richtung einer von christlichen Inhalten teils losgelösten Spiritualität.

Das Musikfest ION trägt traditionell gleich zwei Bestimmungen im Namen. Zwar ist der „Markenkern“ des 1951 gegründeten Festivals (bis 2018 „Internationale Orgelwoche Nürnberg") mit seinem großen Orgelwettbewerb bis heute erhalten geblieben; doch in den letzten Jahren haben sich die Akzente verschoben. Beim – so der Untertitel – „internationalen Festival für geistliche Musik in Nürnberg“ steht inzwischen weniger eine im engeren Sinne christliche oder kirchliche Thematik im Mittelpunkt als vielmehr eine Spiritualität, die Grundmotive menschlichen Daseins in den Blick nimmt. 2020 inspirierte die wegen der Corona-Pandemie notwendig gewordene Absage des ursprünglich geplanten Festivals die Festivalmacher zu einem Streaming-Festival unter der geradezu seelsorgerischen Überschrift „Nah bei Dir“. Dessen Veranstaltungstitel lauteten unter anderem: „Über Mut – Musik als Schutz und Orientierung“, „Ins Offene“, „aufstehen – auferstehen – entstehen“, „Trost und Träumen“, „Freude geben“. Es geht also nicht um „musica sacra“ im engen Sinn, sondern eher um Gefühls- und Bewusstseinszustände, die intensive Formen des Gemeinschaftserlebens ermöglichen.

Programmatisch etwas anders aufgestellt ist der von einem Verein getragene Romanische Sommer Köln, mit dem die großen romanischen Kirchen Kölns bespielt werden. Gregorianischer Choral, Alte Musik, Jazz, christliche Kirchenmusik, Neue Musik und Musik nicht-christlicher Kulturen bilden das Spektrum, das durch die Platzierung der Konzerte in Kirchen eine sakrale Grundierung erhält. Motto des Festivals 2019 war „Sagenhaft“; dazu hieß es in der Eigenbeschreibung, das Festival biete „Kompositionen und Improvisationen unterschiedlicher Gattungen und Stilistik vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Werke handelten von Schöpfungs- und Göttermythen, Bibelgeschichten, Heiligenlegenden, Heldensagen, Märchen, Beschwörungsformeln, Zaubersprüchen.“ Dieses Festival nutzt die Aura der alten christlichen Kulträume zu interreligiösen und interkulturellen Erlebnissen. Die vage Botschaft zielt auf ein Publikum, das nicht mehr kirchlich gebunden ist, aber die Erfahrung meditativer Versenkung in „Raum und Zeit“ nicht missen möchte.

Das PODIUM Festival Esslingen, vielgerühmt für seine experimentelle Programmarbeit und getragen von einem besonders jungen Team, ist eigentlich kein Festival für geistliche Musik, und man mag sich wundern, warum dieses Festival überhaupt hier genannt wird. Der Grund ist, dass sich auch und gerade in diesem, oftmals als Labor für die Zukunft des Konzerts wahrgenommenen Festival ein Interesse an Spiritualität deutlich manifestiert, in jüngster Zeit mit einer Tendenz zur Alten Musik: Im Jahr 2019 präsentierte das Festival Bachs Johannespassion in einer radikal reduzierten Version für Tenor, Cembalo/Orgel und Schlagzeug; viele Arien entfielen, so dass die Erzählung der Rezitative stärker in den Vordergrund rückte. Choräle wurden vom Publikum gesungen. Der Tenor Benedikt Kristjánsson stand vorne, erzählend, gestikulierend, dirigierend. So entstand eine hochkonzentriertes geistliches Spiel, dass mittlerweile zu vielen weiteren Festivals eingeladen wurde. Für 2020 war Monteverdis “Marienvesper” in einer neuen Fassung geplant - gegenübergestellt dem zeitgenössischen Zyklus “Vespers and Dreams for a New Dark Age” von Missy Mazzoli, ein um Rituale heutiger Zeit kreisendes Stück.

Bemerkenswert ist, dass Spiritualität als Festivalgegenstand sogar von den ganz großen Konzertveranstaltern in Betracht gezogen wird. Das seit 2013 alle zwei Jahre in Hamburg stattfindende Festival Lux aeterna – ein Musikfest für die Seele etwa wird von der HamburgMusik gGmbH – Elbphilharmonie und Laeiszhalle Betriebsgesellschaft veranstaltet. Ein Zitat aus der Veranstaltungs-Website zum Festival 2019 mag die Ausrichtung ein wenig näher beleuchten. Hier heißt es: „Im Frühjahr 2019 lädt das 'Musikfest für die Seele' bereits zum vierten Mal in die hell erleuchteten Konzerthäuser und Kirchen der Stadt. Über gut drei Wochen hinweg und in rund 25 Veranstaltungen erklingt hier Musik, die den Hörer dem nieselig-grauen Hamburger Winter entrückt und versucht, tiefgehende Fragen zu beantworten. Wofür lebe ich? Gibt es eine höhere Sphäre der Existenz, womöglich sogar einen Gott? Was geschieht nach dem Tod? In Zeiten, da sich viele Menschen abhängig von ihrem Smartphone und abgehängt von der Gesellschaft fühlen, da die politischen Themen immer unlösbarer scheinen, stellen sich solche Fragen noch etwas drängender als sonst.“ [2]

Dass geistliche Musik hier in einem umfassenden Sinn zum Tragen kommt, verdeutlicht ein Blick in das Programm der Festivalausgabe 2019, bei der Künstler, Komponisten und Werke mit starkem spirituellen Bezug, jedoch nicht ausschließlich mit kirchlicher Ausrichtung in den Vordergrund gerückt wurden. Mehr als auf den konkreten geistlichen Inhalt hebt das Programm auf die „mystische Qualität der Musik“ ab. Tanzende Derwische treffen auf Bach, Texte des Mystiker Rumi auf Jazz, Ragas auf Beethoven, ein Sanctus von William Byrd auf Beethovens Violinkonzert, Messiaens „Le martyre de Saint Sébastien“ steht neben einem „Oratorium“ des Performance-Kollektivs She She Pop. Das Festival ist multistilistisch und erkundet die Sphären der Spiritualität assoziativ.

Fazit

Geistliche Musik im Konzert ist in Deutschland ein Phänomen, bei dem sich zwar einerseits eine starke und vitale Traditionsverhaftung, andererseits aber auch Entwicklungen konstatieren lassen, die den gesellschaftlichen Wandel widerspiegeln und noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wären. Entkirchlichung, Internationalisierung und Multikulturalisierung einerseits, die Sehnsucht nach Auszeiten und Entschleunigung andererseits – dies alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Konzertleben, soweit es sich geistlicher Musik verschreibt. Während die Kirchen weiterhin flächendeckend Kirchenkonzerte und Orgelwochen abhalten und damit eine lebendige und keineswegs überholte Tradition pflegen, die gerade für das Amateurmusizieren von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, vollziehen sich außerhalb der alten kirchenmusikalischen Welt bemerkenswerte Entwicklungen: Das geistliche Oratorium drängt es mehr und mehr an den antiken Ort des Ritus – das Theater –, und es etabliert sich eine Festivalszene, die fasziniert zu sein scheint von religiösen oder allgemein spirituellen Themen, ohne doch kirchengebunden zu sein. Das Konzertleben spiegelt damit die Wirklichkeit religiösen Lebens in Deutschland, das sich durch eine abnehmende Kirchenbindung und eine Zunahme spiritueller Angebote auszeichnet. Wer eine Definition dessen versucht, was geistliche Musik im Konzert heute ist, kommt an dieser neuen Wirklichkeit nicht vorbei. Und vielleicht muss man so weit gehen zu sagen: Die Zukunft geistlicher Musik im Konzert wird heute überwiegend von den nicht-kirchlichen Festivalmachern vorhergesehen und formuliert. Schon wirken die Impulse der Festivals zurück in den Kirchenraum: Als im August 2016 während der Spielemesse „gamescom“ der Kölner Dom unter dem Titel „SilentMOD“ mit einer kunstnebelverstärkten Lichtinstallation und elektronischen Klängen bespielt wurde, da ergriff die neue Spiritualität, die sich nur noch lose an das Christentum andockt, auch von der Kirche Besitz.

Die Definition „geistlicher Musik“ wird also weiter und weiter gefasst. Musik aller Religionen und Kulturen gehört mittlerweile dazu und nahezu jede Musik, die in irgendeiner Form „Versenkung“ ermöglicht. Ob diese Entwicklung anhält oder sich irgendwann umkehrt, ist vorerst nicht abzusehen.

Über den Autor

Michael Gassmann studierte Kirchenmusik, Orgel sowie Musikwissenschaft und Kunstgeschichte. Nach Stationen bei der FAZ sowie beim Musik Podium Stuttgart, der Bachakademie Stuttgart und dem „Heidelberger Frühling“ ist er seit 2021 kaufmännischer Gechäftsführer des Bonner Beethovenfestes.
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Fußnoten

  1. Vgl. Die Äußerungen des kirchlichen Lebens im Jahr 2017, hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Juni 2019, S. 27. Online verfügbar unter https://www.service.elk-wue.de/uploads/tx_templavoila/kirch_leben_2017_01.pdf (Zugriff: 10. Juli 2020).
  2. Vgl. http://www.lux-aeterna-hamburg.de/de/ueber-lux-aeterna (Zugriff: 6. August 2020).