Vorlesung an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
Vorlesung an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar  
Foto:  Guido Werner  /  HfM Weimar
Musikwissenschaft wird nicht berufsspezifisch, sondern akademisch gelehrt. Die Abschlüsse befähigen im Idealfall für ein breites und sich ständig änderndes Betätigungsfeld. Dieses beschränkt sich nicht auf die Universität, sondern kann in sehr vielfältige Bereiche der Vermittlung und Bildung oder der Kultur- und Wissenschaftsverwaltung führen, ebenso zu Archiv- und Bibliothekswesen, Museum, Journalismus und Verlagswesen sowie zu Produktion und Management.

Über die Musikwissenschaft ist die Musik als Gegenstand integraler Teil der aktuellen Wissenschaftslandschaft. Gleichzeitig liefert die Disziplin Grundlagen und bildet das Personal für viele nicht im engeren Sinn künstlerische Aufgaben des musikalischen Kultur- und Bildungswesens aus. Sie ist derzeit in großer methodischer Breite an den meisten Universitäten, an allen Musikhochschulen und in zahlreichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen vertreten, von der Forschungsgruppe Musikalische Akustik am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart bis hin zum Beethoven-Archiv in Bonn. Aus den unterschiedlichsten Interessen heraus wird die Musik überdies immer wieder zum Gegenstand verwandter wissenschaftlicher Disziplinen. Darüber hinaus sind musikwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden in der öffentlichen Wahrnehmung durch Museen, Bibliotheken und Archive in öffentlicher wie privater Trägerschaft präsent, ferner über vielfältige Tätigkeitsfelder in Theatern, Orchestern, im Rundfunk und in Verlagen sowie ganz grundlegend im Musikunterricht der allgemein bildenden Schulen. In Wissenschafts- wie Kulturverwaltung, -verbänden und -politik sowie in der Kreativwirtschaft wird ebenfalls vielfach musikwissenschaftliche Expertise wirksam. Das ist uns so selbstverständlich, dass diese vielfältigen Arbeitsbereiche oft nicht mehr direkt auf die akademische Disziplin bezogen werden, die die Qualifizierung der darin Tätigen trägt bzw. an ihr mitwirkt – und dennoch ist gerade diese Selbstverständlichkeit mit der Existenz einer akademischen Einbindung der Musik eng verbunden. 

In den verschiedenen Zweigen der Musikwissenschaft reflektiert unsere Gesellschaft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Methoden, was sie unter Musik versteht, welchen Ort und welche Funktionen sie ihr zuweist. Mit solcher Reflexion geht unmittelbar auch ein historisches Bewusstsein über die Entstehung wie die Wandelbarkeit sowohl des Gegenstands selbst wie der an ihn angelegten Erkenntnisweisen einher. Dass ein Gemeinwesen dies und in dieser Weise überhaupt in den Blick rückt, d. h. dass es eine akademische Disziplin etabliert, die sich der Reflexion über Musik widmet und diese im System der Wissenschaften verortet, sagt etwas aus über den Stellenwert der Musik in der Kultur. Es ist ein Zeichen für die konstitutive Bedeutung und Erkenntnisfunktion, die der Musik in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zugeschrieben wird – auch über ihre unmittelbar sinnliche und ästhetische Erfahrbarkeit hinaus. Das Prinzip, dass die methodischen Zugriffe auf Musik sich aus den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Möglichkeiten der Welterfassung speisen und dass diese mitbestimmen, was wir als Musik ansehen und verstehen können, gilt für die Disziplin bis heute. Die weitgehend auf öffentliche Trägerschaft gründende institutionelle Landschaft, in der sich die Musikwissenschaft hierzulande ansiedelt, verankert eine Vorstellung von Kultur, in der kulturelle bzw. künstlerische Praxis und ästhetische Erfahrung zum Gegenstand von Reflexion und Erkenntnisgewinn werden. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm sieht hier die Grundlage für die ideelle Reproduktion der Gesellschaft: „Zur Kultur wäre dann alles zu zählen, was sich auf Weltdeutung, Sinnstiftung, Wertgründung, -tradierung und -kritik sowie deren symbolischen Ausdruck bezieht, sogenannte Gegen- und Subkulturen eingeschlossen.“ [1] In einer so verstandenen Kultur sind die vielfältigen Erscheinungsformen von Musik Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsraums, in dem sich ein demokratisches Gemeinwesen über seine gesellschaftlichen wie kulturellen Grundlagen klar wird. Ein demokratischer Staat ist existenziell auf einen solchen Aushandlungsraum angewiesen, kann er doch anders als ein autokratischer Staat seine Legitimation nicht einfach behaupten oder setzen, sondern muss sie kulturell konstituieren. Genau das wird in Kunst, Wissenschaft, Bildung und Kultur verhandelt, deshalb müssen sie frei sein – autonom, nicht autark, d. h. nicht unabhängig vom Staat, sondern auf dessen Fundament. Daraus ergibt sich auch, dass die Bedeutung der Kultur und im Besonderen der Musik in unserer Verfassung nicht darin liegt, dass sie eine bestimmte (ggf. auf stereotype Eigenschaften eines Staats bzw. einer Nation reduzierbare) Gestalt hat, sondern, dass man der Auseinandersetzung mit und über Musik einen zentralen Platz in diesem Aushandlungsraum zuweist. Durch die institutionelle Verankerung der Musik wie der Musikwissenschaft im öffentlichen höheren Bildungswesen (allgemein bildende Schulen und Hochschulen) repräsentiert und sichert das Staatswesen diesen Platz. Die Verbindung dieser Sicherung mit der Autonomieforderung schafft gleichzeitig die Voraussetzungen für Veränderung und Weiterentwicklung und öffnet Möglichkeiten der Reflexion in die Zukunft. 

Messungen an der Forschungsorgel am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart.
Foto:  Roman Weck
Orgepfeiffen der Forschungsorgel im Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart
Orgelpfeiffen am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart  
Foto:  Roman Wack
Forschungsorgel am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart. Ein Lesegerät misst Werte.
Foto:  Roman Wack

Die internationale Verbreitung und Vernetzung der Disziplin Musikwissenschaft mag als Zeichen auch für die Verbreitung solcher Überzeugungen gelten. Damit arbeitet sie in vielfacher Weise an Schutz, Überlieferung und Förderung jener musikalischen Vielfalt mit, die seit 2005 durch eine UNESCO-Konvention zum konstitutiven Teil kultureller Vielfalt erklärt wurde. Die Musikwissenschaft teilt deren gleich in der Einleitung formulierte Motivation – die Erkenntnis, „dass die kulturelle Vielfalt ein gemeinsames Erbe der Menschheit darstellt und zum Nutzen aller geachtet und erhalten werden soll“ – ebenso wie ihre zentralen Ziele, vor allem jenes, „das Bewusstsein für den Wert dieser Vielfalt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu schärfen“. [2]

Dass die Musik und deren Prinzipien im universitären Rahmen zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden, hat viel mit der öffentlichen Selbstverständigung über die Bedeutung der Musik für die kulturelle Verfasstheit der Gesellschaft zu tun und steht im Kontext bürgerlicher Bildungsemanzipation. Die Akademisierung der praktischen Musikerausbildung führte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Konservatoriums- und Hochschulgründungen. Viele dieser Einrichtungen boten, weil sie in der öffentlichen Bildungshierarchie auf der Ebene der „höheren Bildung“ angesiedelt waren, u. a. Frauen noch vor dem Zugang zu Gymnasien oder Universitäten eine Möglichkeit, einen dem Abitur vergleichbaren Bildungsabschluss zu erreichen. Komplementär zur praktischen Ausbildung situierte sich die wissenschaftliche Disziplin methodisch in ihrer Anfangsphase innerhalb der alten Philosophischen Fakultät, die zunächst noch nicht in Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften trennte, also neben den Philologien, der Geschichte, Kunstgeschichte etc. auch die Mathematik und die Physik umfasste. Die Disziplin Musikwissenschaft war und ist bis heute, bei aller vorhandenen Betonung von philologischen und kunstwissenschaftlichen Fragestellungen, gerade durch die institutionellen Interaktionen ein sehr bewegliches und vielgestaltiges Gebilde.

Wie eine Konsequenz aus der wechselseitigen Beziehung zwischen Kunstausübung, Wissenschaften und Bildung lassen sich die bis heute wirksamen Bemühungen des preußischen Kulturpolitikers Leo Kestenberg und seiner Mitstreiter seit den 1920er Jahren verstehen, Musik als ein den wissenschaftlichen Fächern gleichgestelltes und nicht allein auf die Praxis, sondern auch auf Reflexion ausgerichtetes Schulfach in den gymnasialen Fächerkanon aufzunehmen. Er legte damit den Grundstein für die universitäre, künstlerisch-wissenschaftliche Doppelqualifikation von Lehrkräften im Fach Musik, wie sie bis heute üblich ist. Seitdem besitzt die Musikwissenschaft auch in der Lehrerbildung zentrale Bedeutung. [3]

Dass das Grundgesetz die Freiheit von Wissenschaft und Kunst in einem gemeinsamen Paragrafen festhält, spiegelt die bis heute tragende politische wie gesellschaftliche Legitimierung dieser Verbindung in der Verfasstheit der Bunderepublik Deutschland. Die institutionelle Gleichstellung von Universitäten und Kunsthochschulen im Hochschulrahmengesetz von 1977 zieht hieraus schließlich die institutionsrechtlichen Konsequenzen. 

„In der Forschung ist die deutsche Musikwissenschaft in ihren verschiedenen methodischen Ausrichtungen international sehr gut vernetzt.“
Autor
Dörte Schmidt

Aktuelle Forschungslandschaft: Perspektiven – Chancen – Aufgaben

Eine Reihe von neu gegründeten Fachgesellschaften hat in den letzten 30 Jahren die für die öffentliche Wahrnehmung der deutschen Musikwissenschaft seit der Nachkriegszeit so prägende Überblendung von Musikgeschichte, Philologie und musikalischer Analyse ausdifferenziert und die methodische Vielfalt des Fachs sichtbarer werden lassen. Die Lenkungsfreude der aktuellen Forschungspolitik führt zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Forschungsgebiete und damit auch der Stellen-Denominationen, die heute oft eher Aufgabengebiete formulieren als fachliche Zuordnungen. Die Musikwissenschaft hat darauf reagiert, indem sie sich in den letzten zehn bis 15 Jahren zunehmend um den disziplinären Zusammenhang gerade dieser Vielfalt und eine Integration der so unterschiedlichen methodischen Ausrichtungen und Forschungstraditionen unter dem Dach ihrer Disziplin bemüht hat. Sichtbar wird dies u. a. am wachsenden, beweglichen und im Austausch befindlichen Netz der Fachgruppen im Rahmen der Gesellschaft für Musikforschung, der von der Gesellschaft zu den vielfältigen Ansätzen des Fachs herausgebrachten Handbuchreihe „Kompendien Musik“ und ihrem ausdrücklichen Interesse an der Kommunikation mit den fachlich verwandten Disziplinen.

Durch die zunehmende Internationalisierung des akademischen Felds ist in den letzten Jahren das Verhältnis der Praktiken insgesamt (künstlerische, technische u. a.) und damit auch der Künste zu den auf sie bezogenen Wissenschaften institutionell in Bewegung geraten. Die dieser Entwicklung Rechnung tragende Übernahme englischer Terminologien produziert dabei zuweilen produktive, zuweilen aber auch fatale Unschärfen nicht nur in der Verortung von methodisch so breit aufgestellten Disziplinen wie der Musikwissenschaft im Wissenschaftsbetrieb, sondern auch in ihrem Verhältnis zur Kunst. In der angelsächsisch geprägten Welt kann das Fach Musik/Musikwissenschaft zum einen im Kontext der „liberal arts“ stehen und schließt dann unter dem Oberbegriff Musik Wissenschaft und Kunstausübung gleichberechtigt ein. Im Gegensatz dazu steht die Musikwissenschaft in der anderen verbreiteten Fächerdisposition zwischen den Fronten der empirisch arbeitenden „sciences“ und der „humanities“; sie ist aber jedenfalls als Wissenschaft von der Kunstausübung getrennt. In der Übertragung verwirren sich nicht nur oft beide Vorstellungen, sondern die Übersetzung der englischen Begriffe für „Forschung“ bringt überdies immer Unklarheiten in der Unterscheidung von „(scientific) research“ und „scholarship“ mit sich und hat zu einer Konjunktur des Kunstworts „artistic research“ geführt, hinter dem sich sehr unterschiedliche Interessen und Konzepte verbergen können. Als Schlagwort begegnet es einerseits in einer durch die Bologna-Reform ausgelösten, auch in Deutschland zunehmend geführten Diskussion über die Notwendigkeit der Vergabe akademischer Grade in künstlerischen bzw. künstlerisch-wissenschaftlichen Fächern im dritten Zyklus des Europäischen Qualifikationsrahmens für deutsche Hochschulabschlüsse, in der es auch um die Frage wissenschaftlicher Anteile in künstlerischen Studiengängen geht. [4] Andererseits geht von der damit suggerierten Nähe von wissenschaftlichen und künstlerischen Verfahren auch für die universitären Kunstwissenschaften eine offensichtliche Attraktivität aus, weil sie es diesen traditionell von der Kunstausübung getrennten Institutionen erlaubt, ihrerseits künstlerische Arbeit zu integrieren.

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Im Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena kooperieren die Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und die Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Im Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena kooperieren die Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und die Friedrich-Schiller-Universität Jena.  
Foto:  Guido Werner  /  HfM Weimar

In der Forschung ist die deutsche Musikwissenschaft in ihren verschiedenen methodischen Ausrichtungen international sehr gut vernetzt. Bis heute weltweit führend ist sie vor allem in der Editionsphilologie. Und das nicht so sehr, weil dieseseit dem 19. Jahrhundert eng mit dem Fach verbunden ist, sondern vor allem, weil es aufgrund der Bedeutung des philologischen Zugriffs auf die Musik für die westdeutsche Nachkriegskultur gelungen ist, zunächst mit Hilfe der Volkswagenstiftung und dann über die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften ein Förderprogramm zu institutionalisieren, das in Kooperation mit den großen deutschen Musikverlagen breit angelegte Projekte mit einer Laufzeit zwischen zwölf und 25 Jahren finanzieren kann. Das „Akademienprogramm“ trägt nicht nur die großen traditionellen Gesamtausgaben, sondern erlaubt heute wohl weltweit einmalig durch sehr langfristige Absicherung, die Konzepte wissenschaftlich-kritischer Musikedition sowohl innerhalb der bestehenden als auch im Rahmen neu begonnener Projekte auf dem aktuellen Stand der methodischen Debatte wie der Technik weiterzuentwickeln. Vor allem durch Neuerungen im Bereich der digitalen Werkzeuge und ihrer Anwendung macht dies die Musikphilologie zukunftsfähig und kann damit auch in den übrigen öffentlich wie privat finanzierten Bereich der Edition ausstrahlen. Damit bieten sich innerhalb oder ausgehend von bestehenden Gesamtausgaben-Projekten, wie z. B. in den Vorhaben „Freischütz digital“ oder „Beethovens Werkstatt“, und in neuen Projekten, etwa der Richard- Strauss- und der Max-Reger-Ausgabe sowie der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe, überdies Chancen zur Revision und Modernisierung von Konzepten für autorbezogene Editionen. Wie die Vorhaben „Opera. Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzelausgaben“ und „Corpus monodicum. Die einstimmige Musikdes lateinischen Mittelalters“ zeigen, entstehen auf dieser Grundlage auch Editionen, die nicht autorzentriert angelegt sind und so neue Perspektiven eröffnen. Hier lässt sich beispielhaft sehen, wie langfristige, institutionalisierte Förderung den Wandel gerade nicht hemmt, sondern ermöglicht. So besteht in vielerlei Hinsicht die Chance, eine produktive Zusammenarbeit zwischen Kunst, Wissenschaft, Archiven, Bibliotheken und Verlagswesen im digitalen Bereich zu etablieren und damit die Zukunft dieser technisch wie rechtlich so vieldimensionalen Interaktion modellhaft zu gestalten. 

Das breite Anwendungsfeld dieser großen Editionsvorhaben liefert nicht nur die Basis für die Entwicklung digitaler Editionswerkzeuge im Rahmen des in Detmold / Paderborn angesiedelten „Edirom“-Projekts, mit denen die deutsche Musikwissenschaft eigene fachspezifische Standards für Notentexte gesetzt hat. Es eröffnet auch der international arbeitenden Music Encoding Initiative (MEI), die das derzeit umfassendste und den Erfordernissen einer wissenschaftlichen Nutzung gerecht werdende Datenformat zur Auszeichnung von Notentexten bietet, ein praktisches Erprobungsfeld für sehr unterschiedliche Anwendungsanforderungen. Damit besetzt die deutsche Musikphilologie im Bereich der Digitalisierung aktuell eine besonders dynamische Stelle in der internationalen musikwissenschaftlichen Forschungslandschaft mit vielen Anschlussstellen in die Musikkultur.

Auch Recherchemöglichkeiten und Quellenzugänge haben sich in der Musikwissenschaft im Zuge der Digitalisierung der Wissenschaften im vergangenen Jahrzehnt sehr stark erweitert und internationalisiert. Die zentrale Beteiligung der deutschen Fach-Community an dieser Entwicklung verdankt sich auch hier einer weiter zurückreichenden Weichenstellung. Nicht nur ist die Musikwissenschaft traditionell eng verbunden mit dem Bibliothekswesen, sondern sie spielte in der (Re-)Integration Westdeutschlands in ein Netzwerk von international arbeitenden Nichtregierungsorganisationen im Umfeld der UNESCO eine wichtige Rolle: Der Deutsche Musikrat gehört zu den in diesem Umfeld entstandenen Verbänden – zunächst als deutsche Sektion des 1949 gegründeten International Music Council (IMC). Neben der Initiative der International Musicological Society (IMS) erfolgte 1953 die Gründung einer deutschen Gruppe der Association Internationale des Bibliothèques, Archives et Centres de Documentation Musicaux (AIBM), die eng mit der Entstehung der internationalen Quellendatenbank Répertoire International des Sources Musicales (RISM) im Jahr zuvor verbunden war. Deren (heute ebenfalls in der Förderung der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften stehende) Zentralredaktion sitzt seit 1960 in Deutschland; die Datenbank ist mittlerweile frei online zugänglich. Die Geschichte von RISM zeigt beispielhaft, wie stark die Idee der Dokumentation und Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite als Möglichkeit internationaler Vernetzung begriffen wurde.

Über die dokumentierende Orientierung an der Materialität musikalischer Quellen und ihre dadurch erforderte Lokalisierung wurde letztlich jene neue, übernationale Kartierung möglich, deren politische Dimension sich von Beginn an in der Verbindung zum bei der UNESCO in Paris angesiedelten IMC zeigt. Im Folgenden wurde RISM zum Modell für zahlreiche weitere damit verbundene internationale Erschließungsprojekte (siehe hierzu auch den Beitrag „Musikinformation und Musikdokumentation“ von Martina Rebmann und Reiner Nägele).

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Screenshot aus Software "VideApp" aus der digitalen Variantendarstellung des Duetts für Viola und Violoncello WoO 32.
Beethovens Werkstatt: Gefördert vom Akademienprogramm untersucht das Projekt kompositorische Prozesse im Werk Beethovens.  
Foto:  Beethoven-Haus Bonn

Mit ihrer breiten Beteiligung an umfangreichen Quellenerschließungs- und Digitalisierungsprojekten und den großen Editionsvorhaben nimmt die deutsche Musikwissenschaft aktiv sowohl an der technischen und fachlichen Gestaltung des digitalen Raums wie an der kultur- und wissenschaftspolitischen Debatte über die Digitalisierung von Kulturgütern teil. Gerade weil sie mit ihrer langjährigen Forschungsexpertise zahlreiche und vielfältige Anwendungsfälle für den Schritt in die digitale Welt bereitstellen konnte, führte dies zu Synergien, die Standardbildungen und Forschungsstrukturen begünstigten. Nicht zufällig gehörte denn auch die Musikwissenschaft zu den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die bereits in der ersten Förderphase am deutschen Zweig des EU-Projekts „Digitale Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Kulturwissenschaften“ (DARIAH) beteiligt waren. Seit 2014 bündelt das Zentrum Musik – Edition – Medien (ZenMEM) die Erfahrungen und Kompetenzen in diesem Bereich und bietet Projekten sowohl technisch wie fachspezifisch Beratung und Fortbildungen an.

Zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben gehört die Einbindung dieser musikspezifischen Ansätze in den Prozess der Gestaltung einer nationalen Forschungsdateninfrastruktur, die auch über das engere akademische Feld hinaus in der Musikkultur wirksam werden kann. Digitalisierungsvorhaben können so in- und außerhalb des akademischen Bereichs in der Musik breit nachnutzbar werden. [5] Als Disziplin, die mit Kulturgütern arbeitet, braucht die Musikwissenschaft nachhaltige Strukturen der Langzeitverfügbarhaltung und -archivierung, die den Prinzipien der Kulturgutsicherung folgen. Hierfür ist eine öffentlich getragene, dauerhafte Infrastruktur an der Schnittstelle zwischen Museen, Bibliotheken, Wissenschaft und IT-Entwicklung notwendig. Schließlich gilt es, ausreichend flexible Konzepte für das Rechtemanagement öffentlich finanzierter digitaler Projekte im Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturbereich zu entwickeln: Die Bedingungen der Natur- und Lebenswissenschaften und ihre Bedürfnisse an Veröffentlichungsstrukturen und Forschungsdatensicherung sind nicht ohne weiteres auf digitalisierte Kulturgüter und die mit ihnen arbeitenden Anwendungen übertragbar. Speziell die Rolle der Verlage unterscheidet sich im Bereich der Musik zu der in diesen Wissenschaftskulturen. Hier kann nur ein gemeinsam vertretenes Modell nachhaltig wirksam werden. Schließlich muss es ein gemeinsames Ziel von Musikwissenschaft und Musikkultur sein, verstärkt die Frage nach dem Verhältnis der Digitalisate zu den Objekten selbst zu stellen und den Schutz des materiellen Kulturguts zu fördern. 

Studium Musikwissenschaft

Bei aller Präsenz ihrer Gegenstände im Kulturleben steht die Musikwissenschaft als Studienfach in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich hinter den künstlerischen Studiengängen im Bereich der Musik zurück. Sie befindet sich gleichsam hinter der öffentlichen Bühne der Musikausübung und bezieht ihre Legitimation auch aus der ästhetischen Präsenz ihres Gegenstands. Genauso wenig jedoch, wie etwa der eine Solist auf der Bühne die vielen Personen zeigt, die im Vorfeld oder hinter der Bühne dafür sorgen, dass eine Aufführung stattfinden kann, spiegelt die allgemeine Sichtbarkeit der Musikausübung die Gewichtung der Anteile der Musikwissenschaft in der Ausbildungslandschaft. Vielmehr zeigt die Statistik zu Studierenden in Studiengängen für Musikberufe für das Wintersemester 2016/17 (und das ist, wie man der Übersicht entnehmen kann, durchaus repräsentativ für die letzten Jahre), dass die Studierenden im Fach Musikwissenschaft und in den Lehramtsstudiengängen, in denen die Musikwissenschaft einen bedeutenden Anteil einnimmt, mit 22 bzw. 23 Prozent jeweils knapp ein Viertel und zusammen fast die Hälfte aller Studierenden in Musikstudiengängen ausmachen; beide Studiengänge liegen nur fünf bzw. vier Prozentpunkte hinter den Studierenden der Instrumental- und Orchesterfächer (27 Prozent). Der Frauenanteil in diesen Studiengängen entspricht in etwa dem Durchschnitt aller Studienrichtungen im Bereich der Musik bzw. liegt etwas darüber (WS 2016/17, Durchschnitt: 54 Prozent, Lehramt: 61 Prozent, Musikwissenschaft: 54 Prozent,). Im WS 2016/17 kamen 13 Prozent der Studierenden im Fach Musikwissenschaft aus dem Ausland. Besonders auffällig ist der zwischenzeitlich starke Zuwachs der Abschlussprüfungen (einschließlich Promotionen) im Fach Musikwissenschaft, die seit der Jahrtausendwende um 127 Prozent (rechnet man nur die Hauptfachprüfungen, sogar um 147 Prozent) zugenommen hat. Hier zeigen sich auch die Auswirkungen der Bologna-Reform (vgl. dazu auch die Abbildungen 1, 3 und 5 im Beitrag „Ausbildung für Musikberufe“). 

Abbildung 1
Ausbildungsstätten für Musikwissenschaft
Deutschlandkarte der Ausbildungsstätten
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Was für Studienbedingungen aber verbergen sich hinter diesen Zahlen? Während in der DDR Musikwissenschaft als Diplomstudiengang mit einem Hauptfach studiert wurde, war sie in der Bundesrepublik in der Regel Teil einer interdisziplinären Fächerkonstellation, die von jedem Studierenden aus den Angeboten des jeweiligen Hochschulorts individuell ausgewählt werden konnte – im Rahmen von Magister- und Promotionsstudiengängen (mit zwei Nebenfächern oder einem zweiten Hauptfach) oder im Rahmen eines wissenschaftlich-künstlerischen Lehramtsstudiums, das in der Regel ein zweites wissenschaftliches Schulfach erforderte. Nicht selten führten und führen diese Lehramtsstudien bis heute ebenfalls auf den Weg in eine musikwissenschaftliche Promotion. Im Zuge des Bologna-Prozesses haben sich die Fächerkonstellationen weitgehend in profilierten Studiengängen festgelegt. Was einmal individualisiert wählbar war, ist nun nicht nur ausdifferenziert, sondern in diesem Zuge gleichsam institutionalisiert worden. Musikwissenschaft ist sowohl in seiner klassischen Benennung, mancherorts in ähnlicher Struktur wie in den alten Magisterstudiengängen (z. B. derzeit in Heidelberg, Kiel, aber auch in Weimar), teilweise als Ein-Fach-Studiengang (aktuell etwa in Essen oder Gießen), als auch als Teil verschiedenster interdisziplinär angelegter, auch wissenschaftlich-praktischer bzw. -künstlerischer Studiengänge mit unterschiedlichsten Benennungen studierbar. Das ständig in Bewegung befindliche Spektrum reicht derzeit von „angewandter Musikwissenschaft“, u. a. in Gießen, „Musik und Medien“, z. B. in Hannover, bis hin zu einem eher technisch ausgerichteten Studiengang wie Musikinformatik, der aktuell in Karlsruhe angeboten wird.

In der Folge der institutionellen Gleichstellung der Hochschulen im Hochschulrahmengesetz boten nicht mehr nur die Universitäten, sondern nach und nach auch die Kunsthochschulen Studienmöglichkeiten auf dem Gebiet der Musikwissenschaft an. Bereits 1977 hat die Musikhochschule Detmold in Kooperation mit der Universität Paderborn ein gemeinsames Musikwissenschaftliches Seminar gegründet, in dem auch das Promotionsrecht ausgeübt werden konnte. In den 1980er Jahren setzten andere große Musikhochschulen ein eigenes Promotionsrecht in Gang (zunächst West-Berlin, Hannover und Köln, heute nahezu überall). Mit der Bologna-Reform haben sich über die Promotion hinaus auch zunehmend musikwissenschaftliche Bachelor- und Master-Studiengänge an Musikhochschulen verbreitet.

Einerseits macht das die Vielfalt der Anschlussmöglichkeiten der Disziplin in viel breiterer Weise öffentlich sichtbar, als es in den alten Studienstrukturen der Fall war, andererseits sorgt es aber auch für nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten bei der Orientierung in diesem Angebot. Teilweise ändern sich Benennungen und Ausrichtungen relativ schnell. Die Sichtbarkeit von Angeboten hängt überdies stark von den Kapazitäten der jeweiligen Institutionen für Öffentlichkeitsarbeit ab, was u. a. dazu führt, dass viele der (in der Regel nicht fachlich spezifisch ausgerichteten) Suchmaschinen für Studienmöglichkeiten im Netz leider unzuverlässige Informationen bieten. Eine gute Orientierung über die fachliche Ausrichtung der Institute bietet neben dem Blick auf die Studiengänge selbst immer auch derjenige auf die Forschungs- und Tätigkeitsprofile der einzelnen Mitglieder des jeweiligen musikwissenschaftlichen Instituts oder Seminars bzw. der zuständigen musikwissenschaftlichen Mitglieder interdisziplinärer Institute bzw. Departements. Hilfreich ist ebenso der Blick auf die musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen der letzten Jahre und auf die nach Instituten dokumentierten Themen der abgeschlossenen Dissertationen. [6] 

Blick in die Ausstellung "Hitler.Macht.Oper"
Foto:  Stefan Meyer  /  Museen der Stadt Nürnberg, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Blick in die Ausstellung "Hitler.Macht.Oper".
Blick in die Ausstellung „Hitler.Macht.Oper“.  
Foto:  Ludwig Olah  /  Staatstheater Nürnberg
Blick in die Ausstellung "Hitler.Macht.Oper"
Foto:  Stefan Meyer  /  Museen der Stadt Nürnberg, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände

Für die Berufsorientierung wächst mit zunehmender Digitalisierung in vielen Bereichen neben den seit Beginn der Fachkonstitution vorhandenen Methodenverwandtschaften zu den klassischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften die Bedeutung der Verbindungen zu Jura und Wirtschaftswissenschaften wie zu Medientechnik und Informatik. Dabei ist die Promotion, wie in vielen anderen universitären Fächern auch, nicht unbedingt als ein rein auf eine wissenschaftliche Laufbahn ausgerichteter Abschluss zu verstehen. Sie qualifiziert für alle Tätigkeiten, die die Fähigkeit zur eigenständigen und originellen Beurteilung und Bearbeitung komplexer wissenschaftlicher Fragestellungen im Bereich der Musik und die Kenntnis der Wissensressourcen erfordern, die die akademische Musikwissenschaft über ihren engeren Bereich hinaus bereitstellt. Gerade weil die Musikwissenschaft in ihrer vielfältigen Verflechtung mit dem Kulturleben außerhalb der Universität im dritten Zyklus der akademischen Ausbildung nicht allein auf die Hochschullaufbahn zielt, ist die Individualpromotion, bei der die Doktoranden ihre Themen unter fachlicher Betreuung selbst wählen und entwickeln, von besonderer Bedeutung. Eine wichtige Rolle spielen dabei neben themenorientierten Nachwuchsförderungen auf der Ebene der Graduiertenkollegs, Drittmittelprojekte etc. auch die klassischen – in ihren Forschungsthemen nicht festgelegten – Mittelbau-Stellen wie die Promotionsstipendien der Begabtenförderwerke.

Grundsätzlich bleibt Musikwissenschaft bei aller Profilbildung ein Fach, das nicht berufsspezifisch, sondern im eigentlichen Sinn akademisch gelehrt wird. Seine Abschlüsse befähigen im Idealfall für ein breites und sich ständig änderndes Betätigungsfeld, das sich durchaus nicht auf die Universität beschränkt, sondern in sehr vielfältige Bereiche der Vermittlung, Bildung, Kultur, Kultur- und Wissenschaftsverwaltung sowie -politik, im Archiv- und Bibliothekswesen, Museum, Journalismus, Verlagswesen, Produktion, Management etc. führen kann.

Über die Autorin

Dörte Schmidt lehrt als Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Sie leitet die Bernd Alois Zimmermann- Gesamtausgabe und ist u. a. Mitglied der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrats und Präsidentin der Gesellschaft für Musikforschung.

Fußnoten

  1. Dieter Grimm: Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen. Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle. Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Köln vom 28. September bis 1. Oktober 1983, Berlin 1984, S. 46–82, hier S. 60.
  2. Vgl. UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Online unter: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/kulturelle-vielfalt/kulturelle-vielfalt-weltweit/unesco-konvention-kulturelle Zugriff: 9. November 2018).
  3. Siehe das Memorandum der Gesellschaft für Musikforschung zur Lehrerbildung im Fach Musik, Kassel 2014. Online unter: https://www.musikforschung.de/gesellschaft/positionen/memorandum-zur-lehrerbildung-im-fach-musik (Zugriff: 10. Oktober 2018).
  4. Siehe hierzu das Memorandum der Gesellschaft für Musikforschung zur künstlerisch-wissenschaftlichen Promotion, Kassel 2014. Online unter: https://www.musikforschung.de/gesellschaft/positionen/memorandum-zur-kuenstlerisch-wissenschaftlichen-promotion (Zugriff: 5. November 2018).
  5. Siehe hierzu das Memorandum der Gesellschaft für Musikforschung zur Schaffung nationaler Forschungsdateninfrastrukturen, Kassel 2018. Online unter: https://www.musikforschung.de/gesellschaft/positionen/memorandum-zur-schaffung-nationaler-forschungsdateninfrastrukturen-nfdi (Zugriff: 29. Oktober 2018).
  6. Aktuelle Informationen bietet die Dissertationsmeldestelle der Gesellschaft für Musikforschung unter der URL http://www.dissertationsmeldestelle.de/willkommen/ (Zugriff: 9. November 2018).