„Ich hatte weder das Können noch die Lust auf eine Solokarriere und wusste, dass ich auch in kein Orchester passe. Deshalb habe ich mir ganz schnell selbst meine Leute zusammengesucht und war von da an immer mein eigener Herr. Musica Antiqua Köln war von Anfang an ein internationales Ensemble mit individuellen Persönlichkeiten, in dem jeder eine Einzelstimme spielte“, das sagt Reinhard Goebel über den Beginn seiner Karriere. [1] Was seine geigerischen Fähigkeiten anbelangt, stellt er sein Licht weit unter den Scheffel. In seiner Aussage steckt aber auch noch für die Akteure der Alten Musik von heute viel von den Motivationen, die sie antreiben. Es geht um das Moment einer größtmöglichen künstlerischen Selbstbestimmtheit, die sie im Bereich Alte Musik finden und die Strukturen, die sich daraus ergeben. Ensemblegründungen finden flexibel entlang von Repertoireinteressen statt. Die Musiker:innen tun sich dafür zumeist in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen und agieren freiberuflich. Dazu später.
Keine Standardbesetzungen
Anders als im klassisch-romantischen Repertoire gibt es in der Alten Musik nämlich keine Standardbesetzungen, die sich aus den Quellen ableiten lassen. Dies betrifft die Besetzungsgrößen genauso wie die klangliche Zusammensetzung. Bei der Gründung der Cappella Coloniensis 1954 orientierte man sich z. B. am historischen Vorbild der Dresdner Hofkapelle im 18. Jahrhundert. Je nach verfügbarem Budget bieten die Ensembles flexible Besetzungen an, ergänzen oder lassen Continuo-Instrumente weg, reduzieren oder stocken die Streichinstrumente auf. Auch bei vokal und instrumental gemischten Besetzungen, etwa in der venezianischen Mehrchörigkeit, können Vokalstimmen jederzeit durch Instrumente ersetzt werden.
Das spezielle Repertoireinteresse kann bei einem Ensemble wie Les Escapades die Musik für Gambenconsort sein, die in zahlreichen Quellen überliefert ist. Fallweise kommen Gäste hinzu, Sänger:innen, Lautenist:innen, Tastenmusiker:innen oder Geiger:innen, je nachdem, was gerade gespielt werden soll. Die Ensembles Musica Fiata und La Capella Ducale, die schon seit den 1970er Jahren bestehen, haben sich auf die vokale und instrumentale Ensemblemusik des 17. Jahrhunderts spezialisiert, das Tübinger Ensemble Ordo Virtutum auf szenische Aufführungen mittelalterlicher dramatischer Darstellungsformen. In Köln kümmern sich der Chorus Musicus und Das Neue Orchester um oratorische Werke des 19. Jahrhunderts oft in ungewöhnlichen Aufführungsprojekten wie dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms für Soli, Chor und Klavier zu vier Händen („Londoner Fassung“) oder Mahlers 4. Sinfonie in Kammerorchester-Besetzung.
Manchmal spielen auch die Zufälligkeiten künstlerischer Begegnungen eine Rolle. Das 2015 gegründete Ensemble PRISMA etwa tritt in der Formation Blockflöte, Violine, Viola da gamba und Laute auf, für die wahrscheinlich kein einziges Werk in genau dieser Besetzung überliefert ist. Aber zur historisch informierten Aufführungspraxis gehört wesentlich, dass die musikalischen Quellen an die jeweiligen Möglichkeiten und künstlerischen Ambitionen angepasst werden.
Diese für die Szene typische Flexibilität in den Besetzungen hat zu einer Vielfalt und Vielzahl an Ensembles geführt, die im Bereich Alte Musik agieren, so dass das Deutsche Musikinformationszentrum mit Stand Juni 2024 in seiner Ensembleliste 238 Einträge verzeichnet. [2]
Ausgefallene Repertoires
Wenn so viele Ensembles sich auf einem nicht kleinen, aber letztlich doch überschaubaren Markt bewegen, ergibt sich, wie auch im Beitrag „Alte Musik" ausgeführt [3] , die Notwendigkeit einer Spezialisierung und Profilierung. Der Hinweis auf Alte Musik oder Historische Aufführungspraxis allein reicht nicht mehr. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei die Suche nach ausgefallenen Repertoires. Stellvertretend für die vielen Möglichkeiten, seien hier einige Beispiele aufgezählt: Beim Forum Alte Musik Köln präsentiert der Dirigent, Countertenor und Hochschulprofessor Kai Wessel regelmäßig Ausgrabungen von großformatigen musikdramatischen Werken so unbekannter Komponisten wie Francesco Antonio Mamiliano Pistocchi, Giacomo Greber oder Luigi Mancia, die er mit Studierenden aufführt. Die Dirigentin und Cembalistin Ira Hochman kümmert sich zusammen mit dem Ensemble barockwerk hamburg um die Wiederaufführung und Einspielung von Opern aus dem Fundus der Hamburger Oper am Gänsemarkt und u. a. der Braunschweiger Oper am Hagenmarkt. Der Dirigent Werner Ehrhardt begibt sich mit seinem 2004 gegründeten Ensemble l’arte del mondo nicht nur auf Grenzgänge zusammen mit Musikern aus der Weltmusikszene, sondern betreibt systematisch die Wiederentdeckung eines frühen sinfonischen Repertoires abseits von Mozart, Haydn oder den Bach-Söhnen. Man hört bei ihm wahrscheinlich zum ersten Mal wieder Stücke von Komponisten wie Joseph Aloys Schmittbaur, Karl von Ordoñez oder Friedrich Schwindl.
Eine gern praktizierte Spezialisierung besteht zudem in einer regionalen Ausrichtung der Repertoires. Das Ensemble Elbipolis Barockorchester beschäftigt sich neben anderem schwerpunktmäßig mit der Alten Musik Hamburgs. Die Hofkapelle München will das Musikleben Münchens und Bayerns zwischen 1600 und 1850 wiederentdecken. Cantus Thuringia & Capella wiederum widmen sich der mitteldeutschen Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts, insbesondere der Kirchenmusik. Hierfür wurde das Forschungs- und Editionsprojekt „Musikerbe Thüringen – Klingende Residenzen, Städte und Dörfer zwischen Reformation und Aufklärung" initiiert.
Crossover
Neben solchen mehr historisch orientierten Spezialisierungen finden sich im Bereich der Alten Musik auch in erstaunlichem Umfang sogenannte Crossoverprojekte, auch wenn sie meistens so nicht bezeichnet werden. Die Capella de la Torre, gegründet als Ensemble für die Bläsermusik der Renaissance, hat z. B. in einem auf CD erschienenen Konzertmitschnitt Werke von Monteverdi mit Texten des Literaten Peter Schneider, vorgetragen von dem Schauspieler Joachim Król, kombiniert. Die lautten compagney Berlin verbindet ABBA mit Jean-Philippe Rameau, wagt Grenzgänge zu chinesischer Hofmusik und zu lateinamerikanischer Musik. Dabei werden solche, die Musikkulturen übergreifenden Ansätze immer neben den konventionellen Alte Musik-Programmen betrieben. Spezialensembles wie Sarband oder das Pera Ensemble, die nichts anderes tun, als solche Grenzgänge zu beschreiten, sind eher selten.
Universalensembles der Alten Musik
Etwas anders gelagert ist die Situation bei Ensembles, die schon aufgrund ihres internationalen Aktionsradius ein sehr breites Repertoire abdecken: Concerto Köln präsentiert sich mit Klassikern aus dem Barock wie Vivaldis „Le quattro stagioni“ oder Bachs „Brandenburgischen Konzerten“, verfolgt aber gleichzeitig das Ziel, die Repertoiregrenzen in Richtung 19. Jahrhundert zu schieben, z. B. durch das wissenschaftlich begleitete Vorhaben, Wagners „Ring des Nibelungen“ mit dem Dirigenten Kent Nagano aufzuführen. Auch das Freiburger Barockorchester, das mit ca. 100 Konzerten pro Jahr fast schon an die Auslastungsgrenze gekommen sein dürfte, erklärt, ein möglichst breites Repertoire abdecken zu wollen: vom Frühbarock bis hin zum neu komponierten Auftragswerk. Diese Ensembles, zu denen auch die Akademie für Alte Musik Berlin zählt, fungieren gelegentlich auch als Klangkörper für groß angelegte Opern- und Oratorienproduktionen und Tourneen.
Neue Konzertformen
Ein Feld, das von den Ensembles zunehmend ins Blickfeld genommen wird, ist das, was man unter Konzertdesign fassen könnte, ein Begriff, der auf den Musikkurator Folkert Uhde zurückgeht. Es geht darum, Alternativen zur traditionellen, im 19. Jahrhundert entstandenen Konzertform zu entwickeln in der Überzeugung, dass ein Großteil der Alten Musik sowieso nicht zu dieser Rezeptionsform passt. Die Stilmittel, die bei den alternativen Konzertformaten eingesetzt werden, können die Integration von Installationen, von Videos oder die Bühnengestaltung umfassen. Sie können darauf abzielen, überraschende Hörerlebnisse zu schaffen und das Publikum durch eine raffinierte Raumanordnung oder sogar aktive Teilnahme an der musikalischen Performance einzubeziehen. [4] In dieses Feld gehören auch Education-Ansätze in den verschiedensten Formen. Das Berliner Tamuz Ensemble lädt z. B. vor einem regulären Konzert zu einem Workshop für Amateurmusiker:innen ein, während Flautando Köln von vornherein zahlreiche Spezialprogramme für Kinder und Jugendliche im Angebot hat. Bei den vom Kölner Zentrum für Alte Musik (zamus) ausgelobten Förderprogrammen, die einen guten Überblick über junge engagierte Ensembles bieten, zeigt sich in den Bewerbungen, dass solche performativen Ansätze fast schon zum Standard gehören. [5] Ähnliches zeigt sich bei den Bewerbungen, die das europäische Netzwerk für Alte Musik REMA erreichen. Schließlich sind auch die während der Covid 19-Pandemie von vielen Ensembles entwickelten Digitalformate zu erwähnen. Internationale Aufmerksamkeit hat hier z. B. das Bachfest Leipzig erzielt, als am Karfreitag 2020 eine kammermusikalische Version der Johannes-Passion live gestreamt wurde.
Kantoren
Aus einer anderen als der Alte Musik-Bewegung und oft weit zurückreichenden Tradition kommen die Kirchenchöre und Kantoreien, namentlich die international renommierten Knabenchöre wie Thomanerchor, Dresdner Kreuzchor, Regensburger Domspatzen oder Windsbacher Knabenchor. Dass diese Klangkörper viel Gemeinsames mit dem Alte Musik-Sektor teilen, liegt zunächst an deren Repertoire, bei dem die geistliche Musik von Bach eine große Rolle spielt. Hinzu kommt, dass der Klang des Knabenchors immer mit Alter Musik und den historischen Aufführungsbedingungen assoziiert wird. Außerdem sind deren künstlerische Leiter, seien es Andreas Reize in Leipzig, Christian Heiß in Regensburg oder Martin Lehmann in Dresden, ausgewiesene Experten der Historischen Aufführungspraxis. Andere Kirchenmusiker haben sich, obwohl sie keinem der traditionsreichen Ensembles vorstehen, dennoch Verdienste in der Alte Musik erworben. So hat etwa Hermann Max mit seiner Rheinischen Kantorei viel für die Wiederentdeckung des Bachumfeldes getan oder Helmuth Rilling mit der Gächinger Kantorei und der Gründung der Internationalen Bachakademie eine Art südwestdeutsche Bachtradition begründet. Solche aus den Kantorenaufgaben erwachsenen Engagements für die Alte Musik lassen sich im kleineren oder größeren Maßstab fast überall in Deutschland aufspüren.
Gesellschaft bürgerlichen Rechts
Die Musiker:innen in der Alten Musik sind in der Regel freiberuflich tätig. Neben der großen künstlerischen Freiheit, die dieser Status ermöglicht, sind aber die Belastungen nicht zu übersehen. Dies beginnt schon bei der geschäftlichen Basis. Wenn die Musiker:innen im Ensemble auftreten, geschieht das meist in Form einer GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts). Eine GbR ist unbürokratisch zu gründen und erlaubt eine große Flexibilität in den Geschäftsstrukturen, hat aber den Nachteil, dass die Gesellschafter vollumfänglich mit ihrem Privatvermögen haften. Hinzu kommt, dass viele der professionellen Musiker:innen nicht nur in einem Ensemble tätig sind, sondern als Soloselbstständige in vielen Formationen mitspielen. Und wenn es sich um begehrte Instrumente handelt wie z. B. Barocktrompete, gibt es sowieso nur eine Handvoll Spieler:innen, die quasi den gesamten – in diesem Fall – „Barocktrompetenmarkt“ abdecken. Viele der heute renommierten Ensembles wurden in den 1980er Jahren gegründet und stehen mittlerweile vor einem Generationenwechsel. Hierfür gibt es in der Alte Musik-Szene keine erprobten Vorgehensweisen. Es kann sein, dass die Ensembles dann einfach aufhören zu existieren wie Musica Antiqua Köln oder Cantus Cölln oder dass bei den GbR-Gesellschaftern die Verjüngung Zug um Zug stattfindet. Ein Beispiel für einen erfolgreichen Generationenwechsel konnte man vor einiger Zeit in Stuttgart beobachten beim Übergang von Helmuth Rilling auf Hans-Christoph Rademann. Die Stuttgarter Ensembles firmieren mittlerweile unter dem Namen Gaechinger Cantorey und bekennen sich anders als noch zu Zeiten von Rilling ausdrücklich zu den Standards der Historischen Aufführungspraxis.
Faire Honorare, Synergieeffekte
Die Ensembles der Alten Musik stehen unter großem finanziellen Druck. Die Tagesgagen für die Spieler:innen sind in der freiberuflichen Szene oft so gering, dass das Thema faire und angemessene Honorierung inzwischen den politischen Raum erreicht hat, bis hin zu einem Vorhaben der derzeitigen Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag das Thema Mindesthonorare aufgenommen hat. [6]
Die Haupteinkünfte erzielen die Ensembles durch den „Konzertverkauf“. Neben den dramaturgisch interessanten selbst entwickelten Programmen lassen sie sich auch als Klangkörper z. B. für Oratorienaufführungen verpflichten, was manchmal den eigenen Ambitionen entgegenstehen mag, aber für Auslastung sorgt, und zugleich ein Markt ist, der wegen der Risiken, die die für solche Engagements notwendigen größeren Strukturen mit sich bringen, gar nicht allen offensteht.
Auch versuchen zahlreiche Ensembles aus finanziellen Erwägungen heraus, sich in verschiedene Richtungen anzubinden. Sie gründen Fördervereine, um private Unterstützungen vor Ort zu kanalisieren, und sind mit benachbarten Hochschulen vernetzt, aus denen wiederum geeignete Musiker:innen rekrutiert werden können.
Synergieeffekte wie diese prägen die Szene. Durch Aktivitäten bei Festivals, Professuren bzw. Lehraufträge, exklusive Bindungen an Labels, Ensembleleitungen und solistische Engagements können sich die Akteure einen großen Wirkungskreis aufbauen und Vernetzungen quasi unternehmerisch nutzen. Ein Beispiel wäre hier der große Aktionsradius, den sich die Kölner Blockflötistin Dorothee Oberlinger geschaffen hat. Zu den genannten Tätigkeiten kommt inzwischen auch eine beginnende Dirigentinnentätigkeit bei normalen Orchestern hinzu. Wenn nicht ein ganzes Festival, so versuchen viele Ensembles, mindestens eigene Konzertreihen zu etablieren. Das Freiburger Barockorchester z. B. veranstaltet sogar drei eigene Reihen in Freiburg, Stuttgart und Berlin, die Akademie für Alte Musik Berlin ebenfalls eine in Berlin und bis zur Covid 19-Pandemie eine in München, die zur Zeit ruht.

Foto: Valentin Behringer
Festivals der Akteure
Generell sind Festivals für die Akteure der Alten Musik ein guter Weg, ihre Aktivitäten zu verstetigen. Dann werden sie nicht nur von Veranstaltern engagiert, sondern treten selbst in dieser Rolle auf. Festivals sichern eine lokale Anbindung, erlauben eine große Repertoirefreiheit und stellen wegen der zeitlichen Abgrenzung eine Art Kristallisationspunkt im Musikleben dar, sind also prinzipiell geeignet für öffentliche Mitteleinwerbung und interessant für Sponsoren, da in Deutschland die Förderung in der freien Szene überwiegend projektbezogen erfolgt. Außerdem kann man durch den Festivalcharakter eine größere publizistische Strahlkraft erzielen. So bündelte Hermann Max bis 2023 seine Aufführungen mit der Rheinischen Kantorei im Festival Alte Musik Knechtsteden, veranstaltet Frieder Bernius das Festival Stuttgart Barock und Jörg Halubek die Stuttgarter Festwoche Barock, die er inzwischen zu einer Saisonreihe ausgebaut hat, bietet die lautten compagney Berlin die Aequinox-Musiktage in Neuruppin an oder präsentiert Andreas Spering im Schloss Augustusburg in Brühl bei Köln das derzeit weltweit einzige Haydn-Festival. Die Batzdorfer Hofkapelle veranstaltet in dem Schloss bei Dresden, das dem Ensemble den Namen gab, jährliche Barockfestspiele. Landauf, landab zeigt sich ein großes Spektrum von Festivals, die alle auf die Aktivitäten von einzelnen Künstlerinnen oder Künstlern zurückgehen.
Historische Spielstätten
Vielfach finden Festivals oder Konzertreihen in historischen Spielstätten statt wie im genannten Schloss Augustusburg als Welterbestätte, im Residenzschloss Bad Arolsen, eine Konzertreihe wie Via Mediaeval in romanischen Baudenkmälern der Pfalz oder die Tage Alter Musik in Regensburg in den Kirchen der Stadt. Dabei lässt sich manchmal nicht mehr herausfinden, was am Anfang stand: der Wunsch, eine als attraktiv angesehene Lokalität mit Musik zu bespielen oder die Suche nach einem geeigneten Konzertort für eine dramaturgische Idee. So beim Festival in Regensburg, das 1984 von drei ehemaligen Sängern der Regensburger Domspatzen gegründet wurde, von denen zwei noch aktiv dabei sind, und das sich dem ganzen Spektrum der Alten Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert widmet und im Untertitel hervorhebt: „an historischen Stätten“.
Zu den thematisch und epochenübergreifenden „allgemeinen“ Alte Musik-Festivals gehören auch die Tage Alter Musik in Herne. In der Ruhrgebietsstadt Herne gab es zuvor keinerlei Bezüge zur Alten Musik, und es gibt auch keine historischen Spielstätten. Dieses Festival, dessen Programm die Redaktion Alte Musik des Westdeutschen Rundfunks gestaltet, ist 1976 auf Initiative einer engagierten Einzelperson entstanden, nämlich des damaligen Stadtdirektors und Orgelliebhabers Joachim Hengelhaupt, ebenso wie die Händel-Festspiele Karlsruhe, die vom damaligen Intendanten des Badischen Staatstheaters Karlsruhe Günter Könemann 1978 noch in Form von Händel-Tagen als Spielplanschwerpunkt des Theaters ins Leben gerufen wurden. Solche Festivals ohne ein programmprägendes Stammensemble, ohne musikgeschichtlichen Ankerpunkt und ohne historische Lokalität sind aber eher die Ausnahme.
Komponistenfestivals
Bei den Komponisten-Festivals steht Johann Sebastian Bach mit Abstand an erster Stelle. Allein die Tatsache, dass es in Deutschland derzeit 16 Festivals gibt, [7] in denen das Werk von Johann Sebastian Bach im Zentrum steht und neben Halle noch zwei weitere Händelfestivals in Karlsruhe und Göttingen, zeigt, dass das Musikleben auch in der Alten Musik nach wie vor durch große Komponistennamen geprägt ist. Die Festspiele in Göttingen wurden bereits 1920 gegründet und sind damit wahrscheinlich das älteste Alte Musik-Festival Deutschlands. Auch diese Komponistenfestivals bemühen sich um die erwähnten neuen Zugangsweisen. Das Bachfest Leipzig hat ein Format „BachStage“, eine „Bach-Sprechstunde“ u. v. m. im Programm, und in Halle gibt es ein Format „Baroque Lounge“ mit alternativen Zugängen zu Alter Musik.
Hinzu kommen weitere Festivals, die an den Geburtsorten von Komponisten oder deren Wirkungsstätten stattfinden, wie die dem heute nur Kennern noch bekannten Barockkomponisten Johann Friedrich Fasch gewidmeten Internationalen Fasch-Festtage in Zerbst, die Telemann-Festtage in Magdeburg oder mehrere Festivals zu Heinrich Schütz. Auffällig ist eine Häufung solcher Komponistenfestivals in Mitteldeutschland, was sich aus der reichen Tradition der Barockmusik in dieser Region erklärt.
Europäische Szene
Rund 60 Festivals mit regionaler und manchmal auch internationaler Bedeutung widmen sich derzeit in Deutschland schwerpunktmäßig der Alten Musik. Sie bilden einen wesentlichen, auch öffentlichkeitswirksamen Pfeiler für das Fortbestehen der Szene und sind mehr als eine Ergänzung der Auftrittsmöglichkeiten bei den Konzerten, die von den kommunalen Trägern, Kirchen, Vereinen oder Initiativen veranstaltet werden oder auch bei den Konzertreihen mit Schwerpunkt Alte Musik, die es in verschiedenen Konzerthäusern in den Metropolen mittlerweile durchaus auch gibt.
Bei aller Vielfalt, in der sich die Ensemble- und Festivallandschaft in der Alten Musik in Deutschland präsentiert, darf nicht aus dem Blick geraten, dass die Szene europäisch geprägt ist. Das betrifft nicht nur die Musiker:innen, die oft in Ensembles anderer Länder mitspielen, vor allem aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich, und mit ihnen das Konzertleben hierzulande genauso prägen wie einheimische Klangkörper. Das betrifft auch den Austausch und die Kooperationen unter den Veranstaltern, Agenturen, Labels und Hochschulinstitutionen etwa im europäischen Netzwerk für Alte Musik (rema-eemn.net). In einem weiteren Sinne könnte man deswegen sogar davon sprechen, dass die Alte Musik ein klingendes kulturelles Erbe darstellt, dessen Pflege zur nachhaltigen kulturellen Entwicklung der Regionen Europas genauso beiträgt wie die Erhaltung und Nutzung von Architekturdenkmälern oder Programme für kulturelle Stadtentwicklung.
Fußnoten
Reinhard Goebel, Sabine Radermacher: Kreativität aus dem Wissen der Zeit, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, Kassel 2023, S. 313-323, hier S. 315.
Vgl. die Institutionenübersicht zu Ensembles für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 02. Juli 2024).
Vgl. den Beitrag „Alte Musik" von Richard Lorber, 2024 (Zugriff: 11. März 2025).
Vgl. Elina Albach: Neue Konzertformate, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 255-264, hier S. 261.
Vgl. Richard Lorber: Zeitgeist und Zeitstil, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 13-34, hier S. 22–23.
Vgl. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP). Online unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf (Zugriff: 29.06.2024).
Vgl. die Institutionenübersicht zu Festivals für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 02. Juli 2024).