Internationale Händel-Festspiele Göttingen 2024, Il Trionfo del Tempo e del Disinganno
Internationale Händel-Festspiele Göttingen 2024, Il Trionfo del Tempo e del Disinganno  
Foto:  Alciro Theodoro da Silva

Alte Musik ist heute viel mehr als Bach und Händel. Zahlreiche Spezialensembles und Festivals prägen eine Szene, die beständig neues Altes entdeckt, moderne Konzertformen entwickelt und Repertoiregrenzen öffnet.

Die populäre Musik ausgenommen, hat wahrscheinlich kein anderes Musikgenre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen derartigen Aufschwung genommen, wie das, was man heute unter Alter Musik versteht. Dabei hat der Begriff im Deutschen sogar einen leicht pejorativen Klang, denn in dem Wort steckt immer auch die Assoziation von „veraltet“ oder nicht zeitgemäß. In Wirklichkeit hat sich (insbesondere in Deutschland) die Alte Musik-Bewegung mindestens bis in die 1980er-Jahre immer als gesellschaftlich fortschrittlich gesehen als Alternative zum etablierten Klassikbetrieb, darin der zeitgenössischen Musik ähnlich. [1]   Im englischen Sprachraum spricht man treffender von Early Music und im Französischen von Musique Ancienne. In einer Oppositionsstellung zum „Klassik-Establishment“ sieht sich die Alte Musik heutzutage nicht mehr, dafür ist sie im Musikleben zu präsent mit hunderten von Ensembles allein in Deutschland, mit Konzertreihen und eigenen Festivals. Wer heute ein Konzert mit Alter Musik besucht, kann die Aufführung einer Bach’schen Passion in einer Kirchengemeinde oder im Konzerthaus genauso erleben wie ein Musikprojekt, bei dem Grenzgänge zwischen mittelalterlicher und zeitgenössischer Musik beschritten oder Renaissanceklänge in einer Loungeatmosphäre präsentiert werden. Und nicht zu vergessen das Repertoire des barocken Musiktheaters auf den Spielplänen der Opernhäuser. Die Szene ist geprägt durch Repertoirevielfalt und Unkonventionalität in den Präsentationsformen. Die sogenannte Historische (oder historisierende) Aufführungspraxis ist dabei die vorherrschende musikalische Stilistik. Ihr folgen die Akteur:innen der Alte Musik-Szene anders als noch in den Anfangszeiten inzwischen weitgehend ideologiefrei und ohne missionarischen Eifer und begreifen deren Standards als Werkzeuge. Dazu gehören im Wesentlichen drei Elemente: die Verwendung von historischen Instrumenten aus der Entstehungszeit der Werke (Originalinstrumente bzw. Rekonstruktionen und Kopien), die Orientierung an den Spielweisen der Zeit, zu denen man durch das Studium und die Anwendung historischer Traktate gelangt, und die Verwendung von Notenmaterial, das auf der Basis von Quellenforschung editiert ist mit dem Ziel, dem originalen Text der Werke nahezukommen und ein unbekanntes historisches Repertoire zu erschließen. 

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Hofkapelle München
Hofkapelle München  
Foto:  Tobias Eggensberger

Repertoireumfang

Das Repertoire der Alten Musik reicht von den frühesten Überlieferungen mittelalterlicher Gesänge aus dem 10. Jahrhundert etwa in den Handschriften gregorianischer Choräle, in denen die Gesangslinie durch Neumen angedeutet ist, bis zum Ende der Barockzeit Mitte des 18. Jahrhunderts. Dies ist allerdings keine im strengen Sinn geschichtswissenschaftliche Definition, sondern eher eine aus der Praxis gewonnene, lange Zeit bestehende Übereinkunft. So wurden in die Historische Aufführungspraxis schon in den 1950er-Jahren auch Werke der Klassik insbesondere des Klavierrepertoires einbezogen und etwa von Jörg Demus und Paul Badura-Skoda auf dem Hammerflügel dargeboten. [2]  Mittlerweile werden selbst Orchesterwerke des frühen 20. Jahrhunderts etwa von Ravel, Debussy oder Janáček historisch informiert gespielt. Auch die Grenzgänge von Alter Musik und Weltmusik werden von einigen Protagonist:innen der Szene erkundet. [3]

Unterbrochene Aufführungstradition

Nach einer anderen Definition gehören Werke mit einer unterbrochenen Aufführungstradition zur Alten Musik und/oder zur Historischen Aufführungspraxis. Diese Definition geht auf Andreas Holschneider, den langjährigen Leiter der Archiv Produktion, zurück und wurde von dem Alte Musik-Redakteur des SFB/rbb Bernhard Morbach aufgegriffen. [4]  Danach lassen sich selbst Orchesterwerke aus dem frühen 20. Jahrhundert der Alten Musik zurechnen, weil die Streicher zu dieser Zeit – anders als heute – auf Darmsaiten spielten, und in der Barockmusik zeigt sich in vielen Details – nicht nur in der Verwendung der Instrumente – eine unterbrochene Aufführungstradition, z. B. was die Verzierungslehren anbelangt, die heute wiederentdeckt werden. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man selbst eine Wiederaufführung von Stockhausens früher Elektronischer Musik auf den Geräten der 1950er-Jahre als Historische Aufführungspraxis bezeichnen.

Geschichte der Historischen Aufführungspraxis

In Deutschland wird gewöhnlich die Aufführung der „Matthäus-Passion“ durch Mendelssohn 1829 als Startschuss der Alte Musik-Bewegung angesehen. Bei Mendelssohn ging es (noch) nicht um historische Instrumente und auch nicht um eine Aufführungsweise, die sich möglichst eng an die zu Bachs Zeiten anlehnt, sondern um die Wiederentdeckung eines vergessenen und damit für das damalige Musikleben neuen Repertoires. Von diesem Interesse an Alter Musik zeugt auch das Aufkommen des wissenschaftlichen Historismus, der – überspitzt formuliert – zur Erfindung der Musikwissenschaft als Universitätsdisziplin führte und zum Beginn von Denkmälerreihen wie den „Denkmälern deutscher Tonkunst“, zu ersten Gesamtausgaben der Werke von Bach und Händel und zu einer wissenschaftlichen Biographik, etwa Philipp Spittas berühmter Bach-Biographie.

Was die Verwendung von historischen Instrumenten anbelangt, waren in Frankreich und England wichtige Protagonist:innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Cembalistin Wanda Landowska und der Multiinstrumentalist, Instrumentenbauer und Festivalorganisator Arnold Dolmetsch. Wobei man im Falle von Wanda Landowska sagen muss, dass die von ihr gespielten Cembali sich gerade nicht an historische Vorbilder anlehnten. Sie verwendete ein neu konstruiertes Pleyel-Cembalo mit Eisenrahmen und Pedalen für Registerwechsel [5] , das aus heutiger Perspektive wie eine monströse Musikmaschine aussieht und auf dem Landowska orchestrale Effekte wie auf der Orgel erzielen wollte. 

Landowskas und Dolmetschs Wirken wiederum fußte auf einer reichen Tradition in Frankreich und Belgien mit François-Joseph Fétis und Camille Saint-Saëns als den bekanntesten Vertretern. In Deutschland legte die Jugendmusikbewegung um Fritz Jöde in den 1920er-Jahren einen Akzent auf die Alte Musik insbesondere die Chormusik. Auch die „Orgelbewegung“, bei der es um die Restaurierung historischer Instrumente ging, fällt in diese Zeit. Bei der Kabeler Kammermusik wurde seit 1929 Barockmusik auf historischen Instrumenten aufgeführt, einer Konzertreihe, die der Hagener Industrielle Eberhard Hoesch gründete und an der August Wenzinger (Viola da gamba), Gustav Scheck (Querflöte) und Fritz Neumeyer (Cembalo) teilnahmen, die 1954 beim damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Köln maßgeblich an der Gründung der Cappella Coloniensis beteiligt waren, der weltweit ersten Formation in Orchesterstärke, die auf historischen Instrumenten spielte. [6]

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Cappella Coloniensis  bei den Tagen Alter Musik in Herne 2006 (im Hintergrund ChorWerk Ruhr)er Musik in Herne 2006
Cappella Coloniensis bei den Tagen Alter Musik in Herne 2006 (im Hintergrund ChorWerk Ruhr)  
Foto:  Thomas Kost  /  WDR

Die Cappella Coloniensis machte bis in die 1970er-Jahre hinein weltweit Furore mit Konzertreisen bis nach Hongkong und São Paulo und erlebte noch einmal eine Blüte, als dieses bis 2004 vom WDR getragene Orchester Maßstäbe setzte in der Aufführung und Einspielung von Opernwerken des 19. Jahrhunderts, zuletzt mit Wagners „Der fliegende Holländer“ erstmals auf historischen Instrumenten und in der Urfassung von 1841. Davor hatte aber längst ein anderes Ensemble der Cappella Coloniensis den Rang abgelaufen: Musica Antiqua Köln unter Reinhard Goebel, die bis 2006 existierte. Goebel war es, der in den 1970er- und -80er-Jahren den Interpretationsstil von Alter Musik in Deutschland geprägt hatte mit einer zupackenden, in der Artikulation geschärften, nicht auf weichen Schönklang, sondern auf eine klangliche Diversifizierung achtenden und in der Tempowahl bisweilen extremen Spielweise. 

In den 1980er-Jahren haben sich mit Concerto Köln, dem Freiburger Barockorchester und der Akademie für Alte Musik Berlin (damals noch Ost-Berlin) bedeutende Klangkörper gegründet, die die Szene vor allem durch großformatige Orchester- und Opernproduktionen bis heute bereichern. 

Ensemblelandschaft

Insgesamt hat sich die Ensemblelandschaft in Deutschland im Bereich Alte Musik seit den 1980er-Jahren stark vergrößert. Kai Hinrich Müller spricht von „Innovationsdynamik und Angebotsvielfalt“, wie sie auch in den Daten, die vom Deutschen Musikinformationszentrum bereitgestellt werden, zum Ausdruck kommen. [7] Die Liste „Ensembles für Alte Musik“ zeigt rund 240 Einträge. [8] Darunter sind besonders viele Instrumentalensembles in Kammermusikbesetzung, und von diesen kümmern sich trotz der genannten Tendenzen zur Repertoireerweiterung die meisten um das Barockrepertoire.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa zur Jahrtausendwende spielten die Schallplattenfirmen und der Rundfunk eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Alte Musik-Szene, mit Blick auf den Rundfunk vergleichbar mit dessen Rolle für die Avantgardemusik. In einer Zeit, in der Konzerte mit Alter Musik, abgesehen von Aufführungen von Oratorien und der Bach'schen Passionen, nicht zum Programmbestandteil der etablierten Konzertstätten gehörten, war die Aufnahmearbeit im Studio eine Kernaktivität vieler Ensembles. Schon 1949 wurde von der Deutschen Grammophon Gesellschaft die Archiv Produktion gegründet, ein Sublabel für Alte Musik, das vielen Ensembles wie auch Musica Antiqua Köln überhaupt erst eine überregionale Aufmerksamkeit verschaffte. Und hätte es die Reihe „Das Alte Werk“ als Teldec-Edition nicht gegeben, wäre ein für die Historische Aufführungspraxis epochemachendes Projekt wie die von Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt von 1970 bis 1989 betriebene Gesamtaufnahme aller geistlichen Kantaten von Johann Sebastian Bach nicht zustande gekommen. [9] Aufseiten des Rundfunks hat vor allem der Westdeutsche Rundfunk in Köln viel für die Alte Musik getan. Unter vielen tausend Aufnahmen entstand hier z. B. mit „Zaïs“ von Jean-Philippe Rameau die erste Aufnahme einer französischen Barockoper, gemeinsam geleitet von Gustav Leonhardt und Sigiswald Kuijken, und auch die Opernaufnahmen mit René Jacobs, die bei dem Label Harmonia Mundi France erschienen, sind fast alle als Rundfunk-Coproduktionen entstanden. Heutzutage kommen, veröffentlicht unter einer Vielzahl von Labels, nicht weniger Aufnahmen mit Alter Musik auf den Markt, aber durch die Krise der Schallplattenindustrie und durch den Aufgabenwandel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Studioaufnahmen für die Ensembles keine Einnahmequelle mehr, sondern im Gegenteil ein finanzielles Wagnis, weil sie oft von ihnen teilfinanziert werden müssen.

Interpretationsstile in der Alten Musik

Für die Barockmusik ist die Historische Aufführungspraxis durch Quellen gut dokumentiert und von Musiker:innen erprobt. Dieser Interpretationsstil lässt sich als das sogenannte rhetorische Musizieren oder als Klangrede beschreiben, ein Begriff, der durch Nikolaus Harnoncourt in Anlehnung an historischen Quellen populär wurde. [10]  Es geht um eine kleingliedrige Phrasierung mit differenzierter Gewichtung einzelner Noten, um musikalische Figuren voneinander unterscheiden zu können. Weitere Merkmale des Barockstils sind Verzierungen, die nur andeutungsweise dem Notentext zu entnehmen sind, und eine improvisatorische Praxis namentlich im Basso continuo. Gut dokumentiert sind auch die historischen Besetzungsgrößen. Tendenziell sind Barockensembles der Historischen Aufführungspraxis kleiner besetzt als moderne Klangkörper bis hin zur solistischen Besetzung einzelner Stimmen selbst in Orchestersätzen. Auch spielen die Barockensembles auf einem anderen – meist tieferen – Stimmton als die modernen Ensembles. 

In der Renaissancemusik sind die Verhältnisse dagegen weniger klar. Das fängt schon bei der bis ins 16. Jahrhundert verwendeten Mensuralnotation an. Mehrstimmige Vokalmusik wurde aus Stimmbüchern gesungen, die den horizontalen Verlauf der jeweiligen Stimme anzeigen, nicht aber die harmonische Organisation des Gesamtklangs, worauf die heutige Musikpraxis abzielt. Dies führt zu einem erheblichen Anteil an improvisatorischer oder ad hoc vorauszudenkender Musizierweise selbst bei nach unserer Vorstellung streng komponierten polyphonen Sätzen. [11]

Bei der Aufführung von mittelalterlicher Musik ist der Rekonstruktionsanteil von vornherein sehr groß, da hier die Quellen in der Regel weder den musikalischen Rhythmus noch den genauen Tonhöhenverlauf anzeigen. Mittelalterexpert:innen haben deswegen Methoden entwickelt, wie solche Musik dennoch zum Klingen gebracht werden kann. Sie reichen von der Adaption mündlich tradierter Repertoires bis zur Übertragung bekannter melodischer Formeln auf ähnliche Versstrukturen bei der jeweils aufzuführenden Musik. Als Pionier hat hier das Ensemble Sequentia mit seinem Leiter Benjamin Bagby gewirkt. Jedenfalls ist gerade in der mittelalterlichen Musik der kreative Anteil der Ausführenden besonders hoch, sodass man hier sogar von Mittelalter-Avantgarde sprechen könnte.

Authentizität

Ein Schlagwort im Zusammenhang mit der Historischen Aufführungspraxis ist der Begriff der Authentizität. Damit verbindet sich die Vorstellung, bei einer Aufführung von Alter Musik, möglichst in allen Details die Verhältnisse abzubilden, die zur Zeit der Entstehung eines Werks, womöglich sogar bei der Uraufführung, gegolten haben. Dieser Begriff ist höchst umstritten, und zwar in zweifacher Richtung. Musikästhetiker wie Laurence Dreyfus [12]  oder Richard Taruskin [13] bezweifelten schon in den 1980er-Jahren, dass es überhaupt möglich sei, die originale Version eines Werkes zu rekonstruieren, da niemals das gesamte historische Wissen verfügbar sei und in der Auswahl schon immer eine Interpretation stecke. Zum anderen befürchtete man, dass die Interpreten der Alten Musik Gefahr liefen, sich in einer antiquarischen Haltung zu bewegen und sich in einen Dogmatismus von Regeln und in der Verwendung der historischen Instrumente zu begeben. Selbst ein Vorreiter der Historischen Aufführungspraxis wie Nikolaus Harnoncourt bekannte: „Wir wollen tatsächlich mit den Mitteln des 18. Jahrhunderts eine Interpretation des 20. Jahrhunderts machen. Es wäre uns als Musikern völlig unmöglich, auf historischen und authentischen Instrumenten des 18. Jahrhunderts zu musizieren, wenn diese keine anderen Vorzüge hätten als ihre Authentizität.“ [14] In diesem Bekenntnis kommt zum Ausdruck, dass Alte Musik immer auch zeitgenössische Musik ist, was bei den Rekonstruktionen von Werken aus der Zeit des Mittelalters unmittelbar einleuchtet, aber auch für das scheinbar, was Instrumente, Spielweisen und Quellen anbelangt, gut dokumentierte Barock-Repertoire gilt.

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Der Instrumentenbauer Burkhard Zander bei der Einstimmung eines von ihm gebauten Cembalos in der Kölner Philharmonie
Der Instrumentenbauer Burkhard Zander bei der Einstimmung eines von ihm gebauten Cembalos (Cembalo nach Daniel Dulcken, Antwerpen 1755) für die Kölner Philharmonie  
Foto:  Burkhard Zander

Singularitäten

Diese Debatte hat sich heute mehr oder weniger erledigt. Kein Künstler der Alten Musik wird heute noch behaupten, die Originalgestalt eines Werkes in seinen Aufführungen abbilden zu können oder zu wollen. Damit werden aber die Errungenschaften der Historischen Aufführungspraxis nicht preisgegeben, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt.

Mit einer steigenden Zahl an Ensembles, die am Konzertmarkt agieren, geht auch der Druck einher, sich dort zu etablieren und durchzusetzen. Dafür reicht wie früher der Hinweis auf die Historische Aufführungspraxis nicht mehr aus. Heutzutage gelten für ein erfolgreiches Agieren mit Alter Musik im Konzertmarkt weitere Kriterien. Es geht darum, mit seinem Angebot eine Art Alleinstellungsmerkmal herauszustellen. 

Dieses kann dramaturgischer Art sein, wie das Entwickeln von performativen Elementen im Zusammengehen mit anderen Kunstformen wie Tanz oder Literatur, oder auch die Entwicklung von neuen Konzertformaten als Alternative zur klassischen Konzertsituation als einem Gegenüber von Ausführenden und Publikum.

Es können aber auch rein musikalische Merkmale den Stil eines Ensembles prägen mit dem Ziel, sich von anderen abzusetzen. So fällt beispielsweise bei der Aufnahme von Vivaldis „Le quattro stagioni“ mit Concerto Köln im Jahr 2016 die extravagante Klanglichkeit in „La primavera“ auf, die sich durch schroffe Wechsel von ruppiger Artikulation und dunklem und weichem Ensembleklang ergibt und auf lautmalerische Effekte abzielt. [15]

Hervorzuheben ist, dass solche Extravaganzen nicht im Gegensatz zu den Kriterien der Historischen Aufführungspraxis stehen, sondern oft aus diesen sogar abgeleitet werden können. Gleichzeitig erfüllen die Künstler:innen der Alten Musik Singularitätskriterien, wie sie von Andreas Reckwitz in seinem 2017 erschienenen Grundlagenwerk „Die Gesellschaft der Singularitäten“ beschrieben wurden. Ihre Interpretationen zielen jedenfalls nicht oder nicht mehr auf Authentizität im Sinne einer historischen Lupe ab. 

Reckwitz beschreibt einen gesellschaftlichen Trend, der sich von standardisierten Massengütern hin zu Affektgütern verschiebt. Affektgüter entwickeln eine eigene Wirtschaftslogik und einen eigenen Markt. Der Wert solcher Güter bemisst sich anhand von emotionaler Beteiligung, Einzigartigkeit, Lokalität und Performanz, anstatt nach Nutzen oder Funktion. Diese „Valorisierung“ betrifft nicht nur den Kulturbereich im engeren Sinn, sondern viele Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft, von Apple-Produkten bis hin zu Therapeuten, die spezielle Behandlungsmethoden anbieten. [16] Im kreativen Bereich konstatiert Reckwitz eine strukturelle Überproduktion, die tendenziell sicher auch für die Alte Musik gilt, wenn man sich die Ensemblezahlen vergegenwärtigt und in Betracht zieht, dass die für Kultur zur Verfügung stehenden Mittel in Deutschland eher nicht anwachsen.

Festivals

Die Alte Musik-Szene ist in Deutschland (und auch in ganz Europa) durch Festivals geprägt. Das Deutsche Musikinformationszentrum verzeichnet hier etwa 60 Einträge. [17]

Dabei nehmen die an den Geburts- oder Wirkungsstätten bedeutender Komponisten stattfindenden Festivals in der Alte Musik-Landschaft eine wichtige Rolle ein, etwa die Bachfeste in Leipzig, Thüringen und Sachsen-Anhalt, die Telemann-Festtage in Magdeburg oder die Händelfestspiele am Geburtsort des Komponisten in Halle sowie in Göttingen und Karlsruhe. Vielfach finden Festivals oder Konzertreihen in attraktiven historischen Spielstätten statt. [18]

Aus diesen verschiedenen Tendenzen ist über Jahrzehnte nicht nur eine große Vielfalt an Festivals und Konzertreihen für Alte Musik entstanden, sondern auch eine damit einhergehende breite Streuung der Repertoires getreu einem Ausspruch des Alte Musik-Pioniers Nikolaus Harnoncourt, bei der Historischen Aufführungspraxis gehe es darum, „bereits bekannte Meisterwerke neu zu sehen und die nicht erkannten Meisterwerke [in den Bibliotheken] … aufzuspüren.“ [19]

Open-Air-Veranstaltung BachStage auf dem Leipziger Marktplatz beim Bachfest Leipzig 2024
BachStage auf dem Leipziger Marktplatz beim Bachfest Leipzig 2024  
Foto:  Jens Schlüter
Blick von oben ins Mittelschiff der Nikolaikirche bei einem Konzert des Bachfestes Leipzig 2024
Konzert in der Nikolaikirche beim Bachfest Leipzig 2024  
Foto:  Gert Mothes
Konzert mit dem Thomanerchor in der Thomaskirche beim Bachfest Leipzig 2024
Eröffnungskonzert des Bachfestes Leipzig 2024 in der Thomaskirche  
Foto:  Jens Schlüter

Barockoper

Ein weiteres wichtiges Feld der Alten Musik ist die Barockoper, die sich auch außerhalb von Spezialfestivals wie Bayreuth Baroque Opera Festival oder den genannten Händelfestspielen an den Staats- und Stadttheatern zu einem festen Repertoirebestandteil entwickelt hat. Eingesetzt werden bei den Aufführungen meist die örtlichen Opernorchester, in der Regel um Continuospieler:innen erweitert und bisweilen von Spezialist:innen der Alte Musik-Szene dirigiert. In der szenischen Umsetzung ist eine Orientierung am historischen Barocktheater dagegen die Ausnahme. Auf einer großen Bühne war das erstmals 2009 bei den Händelfestspielen am Badischen Staatstheater Karlsruhe in einer Inszenierung von Händels „Radamisto“ durch Choreografin und Regisseurin Sigrid t’Hooft zu erleben. Dagegen wird modernes Regietheater häufig mit der Barockoper kombiniert. Hier setzte die Bayerische Staatsoper Maßstäbe. 1994 brachte der Regisseur Richard Jones unter der musikalischen Leitung des Barockspezialisten Ivor Bolton das Geschehen von Händels „Giulio Cesare in Egitto“ als knallbunte Comic-Groteske auf die Bühne. Mit dieser spektakulären Produktion startete in München eine Serie von Händel-Opern, die für andere Bühnen Vorbildcharakter hatte. Allerdings ist im Opernbetrieb der Anspruch einer immer weiteren Repertoireerweiterung nicht festzustellen. Es dominieren die Werke von Georg Friedrich Händel: Im Jahr 2019 (dem Jahr vor der Pandemie mit regulärem Spielbetrieb) wurden 15 seiner Werke an 14 deutschen Bühnen gespielt. An sieben Bühnen erklang Glucks „Orfeo ed Euridice“ und an vier Bühnen Purcells „Dido and Aeneas“. Darüber hinaus gab es einige wenige Aufführungen von Werken von Cavalli, Rameau, Monteverdi oder Vivaldi. [20] Echte Repertoireentdeckungen fanden hingegen auf Spezialfestivals statt wie z. B. Bononcinis „Il Polifemo“ auf den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci.

Ein Phänomen des heutigen Musiklebens ist die Popularität der Countertenor-Stimme. Fast keine Aufführung von Barockopern kommt mehr ohne sie aus, sodass dieses Stimmfach regelmäßig mit Alter Musik und historischer Aufführungspraxis assoziiert wird. Tatsächlich aber traten insbesondere in der italienischen Barockoper niemals Countertenöre auf. Die hohen Stimmlagen (nicht nur) der männlichen Rollen wurden von Kastraten oder von Frauenstimmen gesungen. Geschlechteridentität spielte in der Barockoper eine untergeordnete Rolle. Heutzutage sind die Countertenöre in die Fußstapfen der Kastraten getreten. Deren Timbre ist aber ein anderes als das der damaligen Gesangsstars. Bemerkenswert sind aber auf jeden Fall die stimmlichen Entwicklungen bei den Countertenören in den letzten Jahrzehnten zu mehr Volumen, Virtuosität und Ebenmäßigkeit. [21]

Oper Radamisto in historischen Kostümen im Staatstheater Karlsruhe 2009
Radamisto bei den Händel Festspielen im Staatstheater Karlsruhe  
Foto:  Jacqueline Krause-Burberg

Quellenforschung/Digitalisierung

Bei der Repertoireentwicklung hat es mit Blick auf die Erforschung und Beschaffung von Werken Alter Musik in den letzten Jahrzehnten enorme Erleichterungen gegeben. Die Mühe einer eigenen Quellen- und Bibliotheksarbeit ist heute deutlich geringer als früher. Reinhard Goebel berichtet noch von den Schwierigkeiten der Quellenbeschaffung in den Anfängen seiner Karriere: „Ich hatte diese frühe Affinität zu Büchern und auch zu den Quellen. Ich bin als Student einmal mit dem Nachtzug nach Paris gefahren, um mir am Morgen die ‚Sonnerie de Sainte-Geneviève‘ von Marin Marais und von Jean-Baptiste Quentin Triosonaten zu kopieren.“ [22]  Heute sind die Bestände der Bibliotheken in großem Umfang digitalisiert. Dennoch ist die Arbeit in den Verlagshäusern wie Bärenreiter, Carus, Schott, Henle u. v. a., die die Aufgabe übernehmen, musikwissenschaftliche Ausgaben zum Teil als Gesamtausgaben zu edieren, für die Historische Aufführungspraxis weiterhin unverzichtbar. [23] Denn wenn auch das Quellenmaterial für jedermann abrufbar ist, liegt damit noch lange kein spielbares, nach den Grundsätzen der Quellenforschung gewichtetes Notenmaterial vor. Darüber hinaus kommt der Musikwissenschaft die Aufgabe zu, dieses Quellenmaterial zu deuten und für die heutige Musikpraxis verstehbar zu machen. Das fängt z. B. schon bei der Frage des Werkbegriffs an. 

Ein prominentes Beispiel ist Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“. Der Herausgeber einer neueren Urtextausgabe aus dem Jahr 2017 stand vor dem Problem, eine Oper zu edieren, auf deren Titelblatt „Monteverdi“ steht und damit dem heutigen Werkbegriff entspricht, obwohl die erhaltene Musik keineswegs ausschließlich auf den Komponisten zurückgeht. Eine der heutigen Hauptquellen der Oper, die in der Saison 1642/43 uraufgeführt wurde, basiert auf einer Wiederaufnahme in Venedig 1651/52. Ein Team von Kopisten richtete damals unter Aufsicht von Francesco Cavalli das Material ein. Darin sind auch Passagen enthalten, die nicht von Monteverdi stammen, darunter das berühmte Abschlussduett „Pur te miro“. Die Herausgeber der neuen Urtextausgabe entschieden sich, den Notentext gemäß der Wiederaufnahme zu edieren und damit den historischen Anlass zu repräsentieren. Wissenschaftliche Notenausgaben wie diese repräsentieren also manchmal eher eine Momentaufnahme in der Aufführungsgeschichte als den letzten Willen des Komponisten, und es bedarf der Musikwissenschaft, das für die Praxis deutlich zu machen. [24]

Pragmatismus bei den Instrumenten und Stimmtonhöhen

Bei der Verwendung der historischen Instrumente hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein pragmatischer Umgang etabliert. Bei den Cembali dominieren Nachbauten nach historischen Vorbildern. Maßstabsetzend hat hier der Cembalobauer Martin Skowroneck gewirkt, von dem Gustav Leonhardt sagte, er sei der erste gewesen, der ihn mit brauchbaren Instrumenten versorgte. Bei den Geigen rät jemand wie der Kölner Hochschulprofessor Richard Gwilt, dass man sich als Barockgeiger für sämtliche Repertoires mit zwei historischen Instrumenten begnügen könne und sein Augenmerk vor allem auf die Auswahl der Bögen richten solle [25] , und bei den Blasinstrumenten geht es sowieso fast immer um Nachbauten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit den ventillosen Barocktrompeten. In der Anfangszeit der Historischen Aufführungspraxis konnten anspruchsvolle Partien wie der Trompetenpart im Brandenburgischen Konzert Nr. 2 von den Spielern auf der Naturtrompete kaum bewältigt werden. Deswegen wurden die Instrumente gegenüber den historischen Vorbildern modifiziert, indem zusätzliche Grifflöcher angebracht wurden. Insgesamt zeigt sich, dass auch die historischen Instrumente immer an die Erfordernisse des aktuellen Musiklebens angepasst wurden.

Vor allem von pragmatischen Erwägungen ist auch die Normierung der historischen Stimmtonhöhen im heutigen Musikleben geleitet, etwa die üblichen 415 Hz für Barockmusik, 392 Hz für französisches Repertoire oder 430 Hz für das vorklassische und klassische Repertoire. Diese als historisch bezeichneten, in den meisten Fällen gegenüber den heutigen 440 Hz tieferen Stimmtonhöhen lassen sich aber nicht aus den Quellen ableiten. Vor dem späten 19. Jahrhundert gab es gar keine Möglichkeit, den absoluten Wert einer Tonhöhe im Sinne einer Frequenzmessung zu bestimmen. Auch historische Instrumente wie Orgeln oder Blasinstrumente liefern nur sehr ungenaue Angaben über die absoluten Tonhöhen, weil sie z. B. jahreszeitlichen Schwankungen unterliegen. So stellen die heute üblichen Stimmtonhöhen, obwohl man damit scheinbar an historischen Gegebenheiten anknüpft, eine Übereinkunft und Standardisierung dar, sind aber eine Voraussetzung dafür, dass die Musiker:innen der Alten-Musik-Szene, die oft aus unterschiedlichen Regionen stammen, miteinander auftreten können. [26]

Trotz des (nützlichen) Pragmatismus im Umgang mit dem historischen Instrumentarium unterscheidet sich der Klang selbst modifizierter historischer Instrumente noch so deutlich von denen in einem modernen Sinfonieorchester oder einer Kammermusikformation, dass nach wie vor ein Satz von Gustav Leonhardt im Begleittext zur Einspielung von Bachs Brandenburgischen Konzerten im Jahr 1976/77 gilt: „Für manche Zuhörer mag der Klang noch fremd sein, doch jene mögen beim näheren, ‚synchronisierten‘ Zuhören doch zugeben, dass die Balance zwischen den verschiedenen Instrumenten nun ganz natürlich zustande kommt, dass die Vielfalt der Tonschattierungen und Intonationssubtilitäten der Holzblasinstrumente, verglichen mit der Glätte der späteren Instrumente, einen Reichtum darstellt, dass die Streichinstrumente einen schlankeren, aber reichhaltigeren Klangaufbau haben als diejenigen späterer Zeiten, die sich für andere Musik eignen.“ [27]

Zentren

Während im klassisch-sinfonischen Bereich sich die Orchesterdichte und damit die Konzertdichte in Deutschland mehr oder weniger gleichmäßig verteilt mit Schwerpunkten natürlich in den Großstädten, haben sich in der Szene der Alten Musik seit dem Zweiten Weltkrieg einige Zentren herausgebildet, die mehr oder weniger auch heute noch Bestand haben. So ist z. B. Köln bis heute ein Zentrum der Alten Musik in Deutschland. Eine Initialzündung dafür war sicher die Gründung der Cappella Coloniensis und in der Folgezeit die intensiven Produktionsaktivitäten des WDR. Inzwischen sind die Aktivitäten im Bereich der Alten Musik in Köln aber nicht mehr abhängig von den ortsansässigen Rundfunkanstalten WDR und Deutschlandfunk (DLF). Ein weiterer Meilenstein war die Gründung des Zentrums für Alte Musik (zamus) im Jahr 2011, in dem sich über 200 Musiker:innen und Ensembles zusammengeschlossen haben. Anfangs handelte es sich dabei mehr oder weniger um eine Ansammlung von Ensemblebüros mit angeschlossenem Probenraum in einem alten Industrieareal in Köln-Ehrenfeld. Inzwischen hat sich das zamus zu einer für Deutschland singulären Institution entwickelt und sich einen großen Aktivitätsrahmen geschaffen, der von der Veranstaltung des jährlichen zamus: early music festivals über Förderaktivitäten für innovative Ensembles bis zur Organisation eines Barockorchesters für Amateurmusizierende reicht. In anderen Städten finden verstärkte Alte Musik-Aktivitäten – neben denen in den genannten Städten der Komponisten Bach, Händel oder Telemann – überall dort statt, wo der Nährboden vor allem durch örtliche Musikhochschulen bereitet ist. So ist z. B. das Freiburger Barockorchester aus dem Hochschulumfeld entstanden, ist aber längst ein Kulturträger par excellence in Baden-Württemberg mit eigenen Konzertreihen und betreibt zusammen mit dem auf zeitgenössische Musik spezialisierten ensemble recherche das Ensemblehaus Freiburg, ein Ort für Proben, Veranstaltungen, Projekte und das Management dieser beiden freien Ensembles. 

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Außenansicht des Ensemblehauses Freiburg
Ensemblehaus Freiburg  
Foto:  Freiburger Barockorchester

Bemerkenswerte Initiativen im Bereich Alte Musik gibt es auch in Bremen, ebenfalls hervorgegangen aus dem Umkreis der dortigen Hochschule für Künste oder in Stuttgart bei der Internationalen Bachakademie sowie durch das Engagement von Dirigenten wie Frieder Bernius oder Jörg Halubek. Diese Beispiele stehen für eine insgesamt auch regional ausdifferenzierte Szene der Alten Musik in Deutschland, was sich schon an den Standorten ablesen lässt, die das Deutsche Musikinformationszentrum in seiner Institutionendatenbank unter „Ensembles für Alte Musik“ auflistet. [28] In diesem Zusammenhang sei auf ein weiteres Phänomen hingewiesen: In dem Maße, in dem die Ensembles der Alten Musik sich erfolgreich auf dem Musikmarkt bewegen, besetzen sie auch zunehmend exklusiv das Barockrepertoire, sodass auf den Spielplänen der öffentlich finanzierten Orchester Werke von Bach, Händel, Telemann, ja sogar Werke der Frühklassik Seltenheitswert haben. Trotzdem sind die Errungenschaften der Historischen Aufführungspraxis nicht nur für die Spezialensembles interessant. Klangkörper, die auf modernen Instrumenten spielen, engagieren regelmäßig Expert:innen der Szene, wenn sie doch einmal Alte Musik-Programme einstudieren. Das gilt besonders im Opernbereich. So arbeitet der Pionier Reinhard Goebel, seitdem er 2006 sein Ensemble Musica Antiqua Köln aufgelöst hat, heute fast nur noch mit solchen Ensembles und Orchestern wie den Berliner Barock Solisten oder dem Neuen Bachischen Collegium Musicum Leipzig, beides Ableger der großen Orchester, den Berliner Philharmonikern und dem Gewandhausorchester Leipzig.

Hochschulausbildung

Die Musikhochschulen in Deutschland sind heute ein Kristallisationspunkt für die Alte Musik-Szene, insbesondere dort, wo Institute und Abteilungen mit den dazu gehörigen Studiengängen eingerichtet sind. [29] Dies ist mittlerweile an vielen Hochschulen der Fall, aber nicht an allen. Eine Spezialhochschule für Alte Musik wie die Schola Cantorum Basiliensis, die über den Basler Raum hinaus eine starke Ausstrahlung auch auf die deutsche Szene hat, gibt es hierzulande nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es zunächst einzelne Koryphäen der Alten Musik, die schon früh ohne Institute und Curricula ihre Fächer unterrichteten wie Gustav Scheck in Freiburg, Lajos Rovatkay in Hannover, in Köln Franzjosef Maier, Hugo Ruf und Günther Höller. Inzwischen bemühen sich die Lehrkräfte, die Alte Musik aus einem Elfenbeinturm-Dasein herauszuleiten, als das ihr Wirken früher oft angesehen wurde. Die Grundsätze der Historischen Aufführungspraxis werden bei diesen Erweiterungsbemühungen im Sinne einer hermeneutischen Musikausdeutung verallgemeinert und allen Studierenden nahegebracht und nicht nur auf das Repertoire der Alten Musik angewandt. Hinzu kommt eine immer wichtiger werdende Berufsfeldorientierung in den Hochschulangeboten, um die Studierenden auf eine freiberufliche Laufbahn vorzubereiten.

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Studentin an der Schola Cantorum Basiliensis bei der Arbeit an Gabrieli Impressionen
Schola Cantorum Basiliensis  
Foto:  Susanna Drescher

Freiberuflichkeit

Der Status der Freiberuflichkeit ist ein wesentliches Merkmal der Szene, da ihre Akteur:innen, anders als die Mitglieder in den öffentlich finanzierten Berufsorchestern, keine Planstellen besetzen. Und die Ensembles, in denen sie musizieren, erhalten – bis auf ganz wenige Ausnahmen – auch keine institutionelle öffentliche Förderung. Die Förderstruktur in Deutschland geschieht im Wesentlichen projektbezogen. Dies verhindert in der Alten Musik (wie auch in Genres der zeitgenössischen Musik oder des Jazz) den Aufbau von mit festem Personal ausgestatteten Organisationsstrukturen im Bereich Management oder Dramaturgie für eine langfristige Repertoire- und Ensembleentwicklung. Nur große Ensembles wie das Freiburger Barockorchester, Concerto Köln, lautten compagney Berlin oder die Akademie für Alte Musik Berlin können sich diesen Aufwand leisten. 

Die positive Seite der Freiberuflichkeit liegt in der großen künstlerischen Freiheit und Flexibilität in der Bildung auch von Ad-hoc-Ensembles entsprechend den Repertoireinteressen ihrer Mitspieler:innen. Die vielen freiberuflichen Ensembles in der Alten Musik sind daher der Nährboden für die bemerkenswerte Vielfalt, in der sich die Szene heute präsentiert. Eine Vielfalt, die ein „5 Countertenors“- Galakonzert mit Bravourarien aus italienischen Barockopern genauso einschließt wie ein Berliner Stadtteilfestival in Friedenau, die von einem sich jährlich neu formierenden Europäischen Hanseensemble reicht, das in norddeutschen Hansestädten die Musik der dortigen Komponisten im 16. und 17. Jahrhundert aufführt bis hin zu Fahrradkonzerten mit Alter Musik, die es in Potsdam, Knechtsteden und sicher mittlerweile auch anderswo gibt. Mit anderen Worten: Die Alte Musik ist ein selbstverständlicher und populärer Teil des Musiklebens. Die Gefahr einer kulturellen Randexistenz besteht heutzutage nicht mehr. Die Herausforderung liegt mehr denn je eher darin, wie auch in anderen Kultursektoren, in denen die Akteur:innen direkt von den öffentlichen und gelegentlich auch privaten Förderungen abhängen, durch die eigene künstlerische Tätigkeit auch eine auskömmliche Existenz aufbauen zu können. [30]

Über den Autor

Der Redakteur und Moderator Richard Lorber ist seit 1988 beim WDR tätig, seit 1998 mit den Fachgebieten Alte Musik und Oper. Er ist künstlerischer Leiter der Tage Alter Musik in Herne.

Fußnoten

  1. Vgl. Kai Hinrich Müller: Wiederentdeckung und Protest. Alte Musik im kulturellen Gedächtnis, Würzburg 2013, S. 31–43.

  2. Thomas Synofzik: Alte Musik nach 1750, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, Kassel 2023, S. 180.

  3. S. dazu auch den Beitrag  „Ensembles und Festivals für Alte Musik" von Richard Lorber, 2024 (Zugriff: 20. Dezember 2024).

  4. Vgl. Bernhard Schrammek: Bernhard Morbach (1949-2021). Zur Erinnerung an Bernhard Morbach ein Interview, das ich 2012 für das Festival „zeitfenster“ mit ihm geführt habe, R.I.P. Online unter: https://bernhard-schrammek.de/allgemein/bernhard-morbach-1949-2021 (Zugriff: 02. Juli 2024).

  5. Vgl. Martin Elste: From Landowska to Leonhardt, from Pleyel to Skowroneck. Historicizing the Harpsichord, from Stringed Organ to Mechanical Lute, in: Early Music 42, 1 (2014), S. 13–22.

  6. Ein umfassender Überblick der Geschichte der Aufführungspraxis von Alter Musik findet sich bei: Dieter Gutknecht: Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik, 2. Aufl., Köln 1997. Online unter: https://schott-campus.com/wp-content/uploads/2016/04/gutknecht_studien1.pdf (Zugriff: 04. Juli 2024); Dieter Gutknecht: Die Wiederkehr des Vergangenen. Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik II, Mainz 2015. Online unter: https://schott-campus.com/wp-content/uploads/2016/04/gutknecht_wiederkehr-des-vergangenen.pdf (Zugriff: 04. Juli 2024).

  7. Vgl.  Müller: Wiederentdeckung und Protest, S. 124–126.

  8. Vgl. die Institutionenübersicht zu Ensembles für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 02. Juli 2024). Das Deutsche Musikinformationszentrum verzeichnet Spezialensembles für Alte Musik, die sich mindestens zur Hälfte aus Berufsmusikerinnen und Berufsmusikern zusammensetzen und aktuell im öffentlichen Musikleben präsent sind. Sie sind i. d. R. in freier Trägerschaft organisiert und führen Musik vom Mittelalter bis zur Frühklassik, z. T. auch darüber hinaus auf, überwiegend in historisch informierter Aufführungspraxis.

  9. Johann Sebastian Bach: Das Kantatenwerk. Concentus Musicus Wien, Leonhardt Consort, Gustav Leonhardt, 90 LPs (Vol. 1-45), Teldec (1971-1989). Online unter: https://www.harnoncourt.info/bach-das-kantatenwerk-%C2%B7-complete-cantatas/ (Zugriff: 02. Juli 2024).

  10. Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede, Salzburg und Wien 1982, 8. Aufl., Kassel [u. a.] 2016 [1. Aufl. Salzburg und Wien 1982], insbesondere S. 156–160.

  11. Vgl. Meinolf Brüser: Vom freien, polyphonen Singen: Zur Aufführungspraxis von Renaissancemusik, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 165–178.

  12. Laurence Dreyfus: Early Music Defended Against its Devotees. A Theory of Historical Performance in the Twentieth Century, in: The Musical Quarterly 69, 3 (1983), S. 297–322.

  13. Richard Taruskin: Text and Act. Essays on Music and Performance, New York 1995.

  14. Nikolaus Harnoncourt: Der musikalische Dialog. Gedanken zu Monteverdi, Bach und Mozart, 9. Aufl., Kassel [u. a.] 2019 [1. Aufl. Salzburg und Wien 1984], S. 108.

  15. Vgl. Richard Lorber: Zeitgeist und Zeitstil, in: Richard  Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 20.

  16. Vgl. Lorber: Zeitgeist und Zeitstil, S.  30-31.

  17. Vgl. die Institutionenübersicht zu Festivals für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 02. Juli 2024).

  18. Ausführlicher vgl. dazu auch den Beitrag „Ensembles und Festivals für Alte Musik" von Richard Lorber, 2024 (Zugriff: 20. Dezember 2024).

  19. Richard Lorber: Oper – aber wie!? Gespräche mit Sängern, Dirigenten, Regisseuren, Komponisten, Kassel 2016, S. 101.

  20. Auswertung des Autors der Spielplanübersichten der Zeitschrift Opernwelt.

  21. Vgl. Arnold Jacobshagen: Phänomen Countertenor: Ein historisches oder modernes Stimmfach?, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 89–101.

  22. Reinhard Goebel, Sabine Radermacher: Kreativität aus dem Wissen der Zeit, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 314.

  23. Vgl. die Institutionenübersicht zu Musikverlagen für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 02.Juni 2024); vgl. auch den Beitrag „Alte Musik in Forschung und Edition“ von Tobias Gebauer, 2024 (Zugriff: 11. März 2025).

  24. Vgl. Hendrik Schulze: Von Musikeditionen, „authentischer“ Aufführungspraxis und Bedeutungszuschreibungen, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 219–221.

  25. Vgl. Richard Gwilt: Historischen Geigen, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 208–218.

  26. Vgl. Johannes Keller: „… con quella intonatione che a te piacerà“: Der Umgang mit Stimmtonhöhen und Stimmungssystemen, in: Richard Lorber (Hrsg.): Alte Musik heute, S. 141–150.

  27. Begleitheft zu Johann Sebastian Bach: Brandenburgische Konzerte 1-6, Originalinstrumente, Leitung Gustav Leonhardt, 2 Schallplatten in Kassette, 1977.

  28. Vgl. die Institutionenübersicht zu Ensembles für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 31. Juli 2024).

  29. Vgl. dazu auch die Institutionenübersicht zu Musikhochschulen mit Studiengängen für Alte Musik des Deutschen Musikinformationszentrums (Zugriff: 01. Oktober 2024).

  30. Vgl. dazu auch den Beitrag „Ensembles und Festivals für Alte Musik“ von Richard Lorber, 2024 (Zugriff: 20. Dezember 2024).